Leben in 3-D

Eines Morgens, ich erwachte spät, lag vor meinem Fenster eine ungewöhnliche, ländlich wirkende Stille, die nicht unterbrochen wurde von Hämmern, ...

Eines Morgens, ich erwachte spät, lag vor meinem Fenster eine ungewöhnliche, ländlich wirkende Stille, die nicht unterbrochen wurde von Hämmern, Bohren, Schleifen oder den sonoren Stimmen der Bauarbeiter, deren muskulöse Körper ich jahrelang auf den Gerüsten der gegenüberliegenden Häuser bewundert hatte. Gerade war ich entschlossen gewesen, dem Bezirksamt des Ostberliner Sanierungsgebiets in einem offenen Brief nahe zu legen, das alte Wahrzeichen von Prenzlauer Berg, die Mühle, gegen das Bau-stellendreieck auszutauschen. Da hatten die Bauarbeiter schon ihr Werkzeug geschultert und waren über Nacht verschwunden. Zurück blieben luxussanierte Mietskasernen in aufgemotztem Art-Deco-Stil sowie gerodete Hinterhöfe mit Sandkästen, Bänken und Wipp-Pferden - schreiend bunte Installationen, die auf manche der geistig tätigen Nicht-Eltern unter uns Alt-Anrainern bedrohlich wirken mochten. Aber über allem lag diese köstliche Stille, die ich noch immer genoss, als sich gegenüber wieder Menschen zeigten.

Die neuen Nachbarn.

Junge, noch kinderlose Paare im postmodernen Pubertätsoutfit, schmalhüftig, glattfrisiert, Handy in Händen, stilisierte Nonchalance, die elterliche Apanage finanziert das kulturwissenschaftliche Studium an der Humboldt-Universität in Mitte.

Kein Vergleich mit dem lärmenden Gemisch aus Punks und Pitbulls, die die Gebäude bis zur Sanierung besetzt gehalten hatten. Statt Hanfkästen stellt man jetzt Yuka-Palmen in die Fenster. Hinter ihren lanzettförmigen Blättern, im Wohnungsinneren, kann ich Stapel von Bananenkartons ausmachen, Klassiker beim Umzug mit Büchern. Und ich entdecke den Klassiker aller Bücherregale, BILLY von IKEA. Früher in zwei Echtholzimitaten sowie in schwarz und weiß erhältlich, dann, nach der Wende, kurzfristig aus dem Programm gestrichen, kehrt er nun, wie ich sehe, in einer Tuning-Version zurück, dunkelgrau metallic mit Milchglastüren und Beleuchtung. Und da! Ist das nicht NICK, der Klappstuhl, in drei fröhlichen Farben? Und der Kleiderschrank? Heißt er VICTOR oder HUGO?

Der Einzug inspiriert mich zu unterhaltsamen Ratespielen. Während die Neuen das orangebezogene Bettsofa BEDDINGE vermittels des mitgelieferten Achtkantschlüssels zusammenschrauben - ein schweißtreibendes Geschäft, das Stunden dauert, in denen man wieder und wieder verwirrten Blicks die Aufbauanleitung durchgeht, das Möbel umklappt, umdreht, an die Wand lehnt, sich darauf legt, sich richtig schwer macht, alle Schrauben wieder löst usw. - während die Neuen also mit dem Aufbau befasst sind, studiere ich, entspannt auf meinem JENNYLUND Sessel sitzend, Namen und Preise der lustigen Flickenteppiche, die sich gegenüber auf dem frisch verlegten Laminat ausbreiten, im IKEA-Katalog. Und die neue Philosophie schwedischer Gemütlichkeit, die das Editorial verkündet.

"Lebe hoch 3!" Das Titelmotiv des Katalogs erläutert den enigmatischen Imperativ. Verzichten doch NICK-Klappstühle auf raumfüllende Präsenz, indem sie von hohen Altbauwänden hinunter auf die Klone meiner neuen Nachbarn schauen, die es sich auf BEDDINGE bequem machen. In ihrer überteuerten Einraummietwohnung werden die beiden mit Hilfe der 3-D-Philosophie und des Achtkantschlüssels Möbel aufhängen und -stapeln, die locker die Grundfläche einer Dreiraumwohnung füllen könnten. Spricht IKEA die Sprache der Immobilienhaie? Nicht in die Breite, sondern in die Höhe sollst du bauen.

Glücklich, wer ein preiswertes, weil unsaniertes Obdach hat. In meinen drei Räumen muss kein Stuhl hängen, ÖGLA und IVAR sind frei! Ich schließe den Katalog. Gegenüber verbreiten HEJ Teelichter festlichen Glanz, ich ziehe gleich mit Kerzen in mundgeblasenen LYRISK Kerzenhaltern, hebe mein schlichtelegantes SVALKA Rotweinglas, proste den beiden von Fenster zu Fenster zu. Trautes Heim, eingehüllt in eine Stille, wie man sie aus der Weite schwedischer Wälder kennt. In der Ferne ruft das Wappentier unserer Wahlheimat, in der Ferne ruft der Elch.

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