Leben ohne Zuhause

Wohnungslosigkeit Die Zahl der Betroffenen steigt, die Politik bleibt tatenlos
Ausgabe 08/2019
Das Zelt eines Obdachlosen in Berlin während eines Schneesturms im Januar 2017
Das Zelt eines Obdachlosen in Berlin während eines Schneesturms im Januar 2017

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Am Ende war alles wie am Anfang. Wieder einmal ist nichts passiert im Deutschen Bundestag, dabei wäre es höchste Zeit, zu handeln. Während es in Deutschland 2008 noch 227.000 Wohnungslose gab, waren es 2016 bereits 860.000 Menschen, die nicht über mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Die meisten leben in Notunterkünften, Wohnheimen oder kommen vorübergehend bei Freundinnen unter, über 50.000 Menschen schlafen aber auch als Obdachlose auf der Straße. Allein in diesem Winter sind mindestens elf Obdachlose an der Kälte gestorben. Für das Jahr 2018 prognostizierte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) bereits 1,2 Millionen Wohnungslose.

Bevorzugt im Winter nimmt sich dann auch der Bundestag turnusmäßig des Problems an. So wie vor einigen Wochen, als die Regierung zunächst ihren neuesten Mietenbericht vorstellte. Dass der aus dem Jahr 2016 stammt, fanden vermutlich selbst Vertreter der Großen Koalition etwas peinlich. Beschämend war aber auch, dass die Koalition bescheidene Maßnahmen geradezu stolz präsentierte: 900.000 Euro habe man in den letzten drei Jahren an die BAG W überwiesen. Und den Europäischen Sozialfonds gäbe es ja auch noch. Anschließend wurden durchaus sinnvolle Anträge von Linken und Grünen an den Bauausschuss und damit letztlich in die Bedeutungslosigkeit verwiesen.

Als sich die Grünen im vorigen Herbst mit einer Anfrage erkundigten, was die Bundesregierung gegen Wohnungslosigkeit unternehmen wolle, lautete die Antwort, „akuter Handlungsbedarf“ werde aufgrund der „ungesicherten Erkenntnisse“ nur „bedingt“ erkannt. Das Problem ist nicht neu: Die Zahl der Wohnungslosen beruht auf Schätzungen der BAG W. Eine offizielle, bundesweite Statistik gibt es nicht – obwohl etwa Großbritannien, aber auch das Land Nordrhein-Westfalen es vormachen. Dennoch bekräftigt die Union regelmäßig, eine Zählung sei „schwierig“. Der wahre Grund indes scheint zu sein, dass amtliche Zahlen mehr als Schätzungen schockieren. Und dass sie den politischen Handlungsdruck erhöhen würden.

Da überrascht es nicht, dass die Regierung lieber auf individuelle Ursachen für Wohnungslosigkeit verweist. Es ist das gern bediente Klischee vom Obdachlosen, der seine Situation selbst verschuldet habe und dem kaum zu helfen sei. Aber die Frage ist nicht, ob es sie gibt, die verwahrlosten, psychisch kranken Obdachlosen oder jene, die tatsächlich freiwillig auf der Straße leben. Man findet diese Menschen, unter allen Betroffenen ist ihr Anteil jedoch sehr gering. Wer dazu in der Lage ist, versucht seine Not zu verstecken. Und niemand legt sich gerne bei Minusgraden auf den Beton. Die meisten Wohnungslosen leben zudem gar nicht auf der Straße – und bleiben so für uns unsichtbar.

Wer dennoch so tut, als sei Wohnungslosigkeit vor allem ein individuelles Problem, verkennt und verschleiert die politischen Zusammenhänge. Krisen wie Krankheit oder Jobverlust allein führen nicht in die Wohnungslosigkeit, hinzu kommt stets das Fehlen ökonomischer und sozialer Absicherung. Das bestätigt auch Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W: „Zwar sind persönliche Schicksalsschläge oft Auslöser für den Wohnungsverlust, aber es sind die gesellschaftlichen Ursachen, die zum massiven Anstieg der Wohnungslosigkeit führen.“

Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung lag die Armutsrisikoquote 1998 bei 10,7 Prozent, 2016 waren es bereits 16,8 Prozent. Zugleich explodieren die Mietpreise, vor allem in Großstädten, auch die Mittelschicht bekommt das zu spüren. Der Grund: Der Staat überlässt das Wohnen dem Markt, Spekulationen werden kaum reguliert. 1987 gab es allein in Westdeutschland über vier Millionen geförderte Sozialwohnungen, heute ist es bundesweit noch gut eine Million. Auch Familien werden deshalb häufiger wohnungslos. Es ist dieses politische Unterlassen von Bund und Ländern, das Rechte heute instrumentalisieren, wenn sie Zuwanderer für das Problem verantwortlich machen.

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