Am Ende war alles wie am Anfang. Wieder einmal ist nichts passiert im Deutschen Bundestag, dabei wäre es höchste Zeit, zu handeln. Während es in Deutschland 2008 noch 227.000 Wohnungslose gab, waren es 2016 bereits 860.000 Menschen, die nicht über mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Die meisten leben in Notunterkünften, Wohnheimen oder kommen vorübergehend bei Freundinnen unter, über 50.000 Menschen schlafen aber auch als Obdachlose auf der Straße. Allein in diesem Winter sind mindestens elf Obdachlose an der Kälte gestorben. Für das Jahr 2018 prognostizierte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) bereits 1,2 Millionen Wohnungslose.
Bevorzugt im Winter nimmt sich dann auch der Bundestag turnusmäßig des Problems an. So wie vor einigen Wochen, als die Regierung zunächst ihren neuesten Mietenbericht vorstellte. Dass der aus dem Jahr 2016 stammt, fanden vermutlich selbst Vertreter der Großen Koalition etwas peinlich. Beschämend war aber auch, dass die Koalition bescheidene Maßnahmen geradezu stolz präsentierte: 900.000 Euro habe man in den letzten drei Jahren an die BAG W überwiesen. Und den Europäischen Sozialfonds gäbe es ja auch noch. Anschließend wurden durchaus sinnvolle Anträge von Linken und Grünen an den Bauausschuss und damit letztlich in die Bedeutungslosigkeit verwiesen.
Als sich die Grünen im vorigen Herbst mit einer Anfrage erkundigten, was die Bundesregierung gegen Wohnungslosigkeit unternehmen wolle, lautete die Antwort, „akuter Handlungsbedarf“ werde aufgrund der „ungesicherten Erkenntnisse“ nur „bedingt“ erkannt. Das Problem ist nicht neu: Die Zahl der Wohnungslosen beruht auf Schätzungen der BAG W. Eine offizielle, bundesweite Statistik gibt es nicht – obwohl etwa Großbritannien, aber auch das Land Nordrhein-Westfalen es vormachen. Dennoch bekräftigt die Union regelmäßig, eine Zählung sei „schwierig“. Der wahre Grund indes scheint zu sein, dass amtliche Zahlen mehr als Schätzungen schockieren. Und dass sie den politischen Handlungsdruck erhöhen würden.
Da überrascht es nicht, dass die Regierung lieber auf individuelle Ursachen für Wohnungslosigkeit verweist. Es ist das gern bediente Klischee vom Obdachlosen, der seine Situation selbst verschuldet habe und dem kaum zu helfen sei. Aber die Frage ist nicht, ob es sie gibt, die verwahrlosten, psychisch kranken Obdachlosen oder jene, die tatsächlich freiwillig auf der Straße leben. Man findet diese Menschen, unter allen Betroffenen ist ihr Anteil jedoch sehr gering. Wer dazu in der Lage ist, versucht seine Not zu verstecken. Und niemand legt sich gerne bei Minusgraden auf den Beton. Die meisten Wohnungslosen leben zudem gar nicht auf der Straße – und bleiben so für uns unsichtbar.
Wer dennoch so tut, als sei Wohnungslosigkeit vor allem ein individuelles Problem, verkennt und verschleiert die politischen Zusammenhänge. Krisen wie Krankheit oder Jobverlust allein führen nicht in die Wohnungslosigkeit, hinzu kommt stets das Fehlen ökonomischer und sozialer Absicherung. Das bestätigt auch Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W: „Zwar sind persönliche Schicksalsschläge oft Auslöser für den Wohnungsverlust, aber es sind die gesellschaftlichen Ursachen, die zum massiven Anstieg der Wohnungslosigkeit führen.“
Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung lag die Armutsrisikoquote 1998 bei 10,7 Prozent, 2016 waren es bereits 16,8 Prozent. Zugleich explodieren die Mietpreise, vor allem in Großstädten, auch die Mittelschicht bekommt das zu spüren. Der Grund: Der Staat überlässt das Wohnen dem Markt, Spekulationen werden kaum reguliert. 1987 gab es allein in Westdeutschland über vier Millionen geförderte Sozialwohnungen, heute ist es bundesweit noch gut eine Million. Auch Familien werden deshalb häufiger wohnungslos. Es ist dieses politische Unterlassen von Bund und Ländern, das Rechte heute instrumentalisieren, wenn sie Zuwanderer für das Problem verantwortlich machen.
Kommentare 5
Initiativen wie die BAG W haben k(aum)einen politisch-elitären Arm, dem an dieser Frage etwas liegt und dem die Finanzierung und leidlich hilfreiche Umsetzung noch zuzutrauen wäre.
Für die demokratische Logik der großzähligen Betroffenheit, Wahlen und Bewirtschaftung durch Politeliten usw. ist das Problem noch zu klein und befindet sich zudem im politisch abgekehrten - das schließt untaugliche Protestwahlen nach links wie rechts mit ein -, Terrain.
Mit ein paar fetten Sprüchen der PdL, die aber die Arbeit verweigert, sobald es ans Detail geht, siehe BTF, Berlin, Thüringen usw. lockt man niemanden hervor, erst recht nicht jene mittleren 3 Fünftel der Gesellschaft, die nicht ganz zu Unrecht fürchten, für dysfunktionale Kumpaneien, selbstherrliche Überhebungen und "Transparenz" nach SED/PdL-Qualität geradestehen zu müssen.
Es ist unglaublich, dass die heute aktiven Politiker so tun, als sei das Problem der Obdachlosigkeit wegen Wohnungsmangel bei uns ganz neu und als seien die Betroffenen an ihrer Misere selber schuld.
In meiner empirischen soziologischen Diplomarbeit habe ich schon 1973 über die gleichen Probleme und Ansichten geforscht. Meine Diplomarbeit wurde 1973 in der Reihe rororo aktuell unter dem Titel "Obdachlos durch Wohnungsnot" in 15.000 Exemplaren auf den Markt geworfen. Wer es wissen wollte, hätte es also wissen können. 1974 habe ich mich mit dem damaligen Staatssekretär im Bundesbauministerum Dieter Haack von der SPD!, der später Bundesbauminister wurde, auf einer Podiumsdiskussion der Evangelischen Akademie in Tutzing zu den politischen Versäumnissen gezofft, die im wesentlichen die gleichen waren wie sie heute im Freitag thematisiert werden.
<<Als sich die Grünen im vorigen Herbst mit einer Anfrage erkundigten, was die Bundesregierung gegen Wohnungslosigkeit unternehmen wolle, lautete die Antwort, „akuter Handlungsbedarf“ werde aufgrund der „ungesicherten Erkenntnisse“ nur „bedingt“ erkannt.>>
So ähnlich hat sich damals Staatssekretär Haack auch geäußert. Nicht nur 1973, sondern auch 2019 sind die von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen als Wählerpotential zu klein, als dass ihre existenziellen Anliegen von den "Volksparteien" beachtet und ernst genommen würden.
Neben dem Mangel an preiswertem Wohnraum in Ballungsgebieten war 1973 der wichtigste Grund für die Obdachlosigkeit, dass sich die Betroffenen nicht mit allen verfügbaren juristischen Mitteln gegen die Zwangsräumung wehrten. Meist sind sie einfach nicht zum Gerichtstermin erschienen und hatten auch keinen Anwalt geschickt, so dass ganz humorlos ein "Versäumnisurteil" ausgesprochen wurde.
Betroffene sind ja meist Familien aus der Unterschicht, für die unsere Justiz zu dem undurchschaubaren Komplex aus Politikern, Sozialämtern und privaten Wohnungsbaugesellschaften gehört, mit denen man sich besser nicht anlegt.
<<Da überrascht es nicht, dass die Regierung lieber auf individuelle Ursachen für Wohnungslosigkeit verweist. Es ist das gern bediente Klischee vom Obdachlosen, der seine Situation selbst verschuldet habe und dem kaum zu helfen sei.>>
Hierzu hat meine Diplomarbeit ein überraschendes Ergebnis geliefert: Je weiter nördlich ich kam (München, Frankfurt, Dortmund, Hannover, Hamburg), desto "progressiver" äußerten sich die politisch Verantwortlichen zum Thema "eigene Schuld", aber desto erbärmlicher waren die angebotenen Notunterkünfte. In München hingegen war die Verwaltung durchaus der Meinung, die Obdachlosen seien selber schuld, allerdings war die Qualität der Notunterkünfte in München mit Abstand am besten. Ich führe das darauf zurück, dass man in katholischen bayerischen Dörfern "unordentliche" Häuser in der Öffentlichkeit als Schandfleck betrachtet und sich ihrer schämt. Da bringt man die Armen lieber so unter, dass es nicht auffällt. Diese Mentalität scheint damals auch im Münchener Ordnungsamt geherrscht zu haben. Ja, im Ordnungsamt, denn damals begriff man Obdachlosigkeit nicht als soziales Problem, sondern als eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ihre Behandlung war in den Polizeigesetzen der Länder geregelt. Ich hoffe, dass das zumindest heute anders geworden ist?
Ihre damalige Arbeit war für uns, polit. Pennäler-Clique, 1973 so um die 15 Jahre alt, sehr wichtig, 1 Exemplar = 10-20 Leser.
"Obdachlosigkeit nicht als soziales Problem, sondern als eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ihre Behandlung war in den Polizeigesetzen der Länder geregelt. Ich hoffe, dass das zumindest heute anders geworden ist?"
Nur dahingehend, dass die eine oder andere Sozialmaßnahme mal vor die ordnungsamtliche und polizeiliche Arbeit geschaltet wird. Die Entfernung nahezu sämlicher Sitzgelegenheiten aus dem öff. Raum, - auch genau das Richtige um auch die blöden, nicht zielgruppengerechten Alten zuhause zu halten -, deren ständige Kontrolle, dass da ja kein "Falscher" einnickt usw. sprechen neben anderen Fakten klar für eine Vertreibungsstrategie zu nahezu allen "Kosten" bei den O'losen, aber auch der KKassen bzw. deren Versicherten.
Danke für die Gewissheit, dass das damals tatsächlich jemand gelesen hat!
Kein Wunder, daß viele nostalgisch auf die DDR zurückschauen.
Solche beschämenden Verhältnisse gab es in der DDR nicht!
Unsere dekadenten Eliten lassen die DDR-Machthaber inzwischen
wie verantwortliche und fürsorgliche Altruisten erscheinen.