Leben und feiern

Sozialdrama „Verlorener Horizont“ spielt auch in der Hölle des nahen Calais
Ausgabe 45/2021
Der Roman spielt im Norden Frankreichs an einer einsamen Küste in der Naturschutzzone
Der Roman spielt im Norden Frankreichs an einer einsamen Küste in der Naturschutzzone

Foto: Imago/Le Pictorium

Obwohl Jean Gabin ein lustiger Kabarettist und Sänger war, war es das Image des hartgesottenen Raubeins und gerechten Mannes, das dem Schauspieler anhing. Zu großartig war die Rolle des Lieutenant Maréchal, in die er für Jean Renoirs Meisterwerk Die große Illusion (1937) schlüpfte, einen Anti-Kriegsfilm. Gabin spielt einen Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg, er leidet, schleppt sich durch das kalte Feld über die Dörfer und Grenzen, um aus dem Lager in Deutschland zurück nach Frankreich zu gelangen, hilft nicht nur seinen französischen Kameraden, schließlich gelangt er tatsächlich in die Freiheit. Pascal Dessaints Krimi Verlorener Horizont spielt vor allem mit vielen eingestreuten Zitaten und Bildern aus Jean Gabins langer Filmkarriere nach La grande illusion, sie sind allen Hauptfiguren im Gedächtnis, wie Bälle spielen sie sie sich zu, als moralischer Kompass ist die Erinnerung an Gabin im Krimi präsent, in späteren Filmen spielte er öfter den Richter, der jugendliche Delinquenz auf einen richtigen Weg zurückzubringen vermag.

Verlorener Horizont spielt im Norden von Frankreich, hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, an einer einsameren Küste in der Naturschutzzone. Der Autor Pascal Dessaint verzichtet jedoch auf schöne Landschaftsbilder und auf schlaues Wissen über das Watt und das Wetter. Verlorener Horizont aus dem Polar-Verlag ist ein „Noir“, er faltet ein Sozialdrama auf, das sich nicht aus individuell menschlichen Abgründen, Leidenschaften, Obsessionen, Ausrastern in einer schönen Umgebung auftut, sondern aus gesellschaftspolitischen Schieflagen, deren Sackgassen und Katastrophen auf einen ersten Blick nicht offensichtlich sind, sie entwickeln sich schleichend.

Bis weit über die Hälfte dieses Krimis geht alles einen gewohnten Gang, wenn auch in einer ungewöhnlichen Szenerie, einer Wagenburg, zusammengestellt aus Wohnmobilen und einem hergerichteten Holzverschlag, hier hat jede der Figuren ihre eigene Welt. Von Idealismus sind dabei alle drei jedoch ganz frei. Die Erzählerin Lucille erzählt, wie sie dort Abstand sucht von einer privaten Enttäuschung, auch von der Hölle des nahen Calais, wo sie als Helferin inmitten hoffnungsloser Migranten lebte, 2016 wurde das Lager gewaltsam aufgelöst. Ein zweiter Erzähler geht Anatole nach, einem ehemaligen Brauerei-Fahrer in Rente. Auf die Verwirrungen der Jugend blickt er mit gelassener Erfahrung, er hat seine eigenen Schwierigkeiten, mit dem Altern. Loïk ist der Letzte, der sich in der Campingsiedlung einrichtet, er redet vor allem monologisch vor sich her, für seine hochwahrscheinlich kriminelle Vergangenheit interessiert sich niemand mit besonderer Neugierde in diesem Trio. Selbst der Polizist Martin Verhoeven, der in der Gegend eine einbetonierte Leiche fand, scheint in das Temperament der Wagenburg zu passen, in der jeder für sich lebt und manchmal gemeinsam gefeiert wird.

Auf einen Mord, ein Ereignis, mit dem ein Fall startet, bei dessen Lösung sich der Leser mit Rätseln beteiligen kann, muss man warten. Bis dann doch, spät, ein Schuss fällt. Das Verbrechen lauert zunächst nur in manchen Bildern, in der einen oder anderen Geschichte, in dem zerschnittenen Gesicht von Loïk, im Tod eines Ökoaktivisten mitten im Naturschutzgebiet, im „Dschungel“ von Calais sowieso, ohnehin ist das Verbrechen mit dem Küstenort verwachsen, dem „Cochon Noir“ in Gravelines, nahe der Grenze zu Belgien, wo heute ein Gedenkort an die Flüchtlinge erinnert, die im Frühjahr 1940, von dort kommend, statt in die Freiheit in ein Massaker flohen.

Der gelungenen Übersetzung von Ronald Voullié und Beate Braumann ist es zu verdanken, dass nicht nur der absichtlich hölzerne Stil ebenso in der deutschen Version ankommt, sondern auch die Kino-Erinnerungen an Jean Gabin wach werden.

Verlorener Horizont Pascal Dessaint Ronald Voullié und Beate Braumann (Übers.), Ute Cohen (Nachwort), Polar 2021, 224 S., 22 €

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