In der Ausgabe vom 8. Oktober 1989, die einen Tag nach dem Staatsfeiertag erscheint, gibt es im Sonntag auf Seite 7 einen ganzseitigen Text mit der Schlagzeile Ich will mein Leben – Arbeiten im Thälmann-Park, wohnen in Hohenschönhausen. Unterteile: Uwe und Carola Reuter, Berlin. Notiert von Charlotte Groh.
Ein ausführliches Gesprächsprotokoll, bei dem die Reuters abwechselnd zu Wort kommen. Dieser Text wirkt einigermaßen unwirklich, wenn nicht antiquiert, er lässt etwas vom Lebensgefühl in der späten DDR aufscheinen, die doch gerade erst 40 war. Die Selbstaussagen von Uwe und Carola Reuter, beide Gastronomen aus Berlin, wirken wie Findlinge oder Strandgut aus einem vergessenen Land, wie die Hinterlassenschaften fossiler Exoten, denen die Realität abhanden gekommen ist.
Als die DDR nach dem 9. November 1989 auf einem tödlichen Riff festsaß, langsam auseinander brach und auf Nimmerwiedersehen verschwand, fragte man sich oft, wenn schon nicht der DDR-Staat, ob doch wenigstens die DDR-Identität eine Überlebenschance besäße. Diese Frage lässt sich bis heute nicht abschließend und schon gar nicht verallgemeinernd beantworten. Man wollte sich nicht vorstellen, dass Leute wie die Reuters den Kopf senken und demutsvoll vor dem Arbeitsamt Schlange stehen und das als großen Schritt ins Reich der Freiheit genießen sollten. Dass sie mit Hand anlegen, wenn ihr Betrieb nicht nur abgewickelt, sondern auch noch geschleift würde und als Schutthaufen endet.
Natürlich kann dieser Artikel nicht gelesen werden, ohne die Umstände zu bedenken, unter denen er entstand. Der Sonntag hatte im DDR-Mediensystem andere Spielräume als vielleicht die Berliner Zeitung oder das DDR-Fernsehen, aber er gehörte nichtsdestotrotz dazu. Und das auch noch im Frühherbst 1989. Immerhin schrieb Chefredakteur Winfried Geißler in der gleichen Ausgabe 41/89 für die Kolumne Gedanken zur Zeit über Tausende von Mitbürgern, die damals die DDR verlassen haben oder verlassen wollten: „Was haben wir falsch gemacht? Kann es denn nur eitel Blendwerk sein, das die Leute verführt, wegführt von uns – Weggang auf Nimmerwiedersehen, Verluste von Menschen und Ideen, von Engagement und Leistung – warum? Sind es nicht oft hausgemachte Dinge, die uns das Leben schwer machen? Wie ernst nehmen wir sie wirklich, die sozialistische Demokratie? Veröffentlicht am 8. Oktober 1989, da war Erich Honecker als SED-Generalsekretär noch zehn Tage im Amt.
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