Wer zur Zeit nach Moskau kommt, erlebt eine andere Stadt als vor einem halben Jahr. Russlands Metropole liegt im anti-terroristischen Fieber: Anderthalb Stunden Kontrolle am Flughafen; Bilder aus der Vor-Perestroika-Zeit kommen hoch. Hart klingen die Rechtfertigungen von Freunden, mit denen man sich kürzlich noch einig war in der Ablehnung des NATO-Krieges gegen Serbien: "Ihr könnt diskutieren, ob die kaukasische Spur glaubhaft ist oder nicht. Für uns hier gibt es nichts mehr zu diskutieren; wir haben den Krieg im Land. Jetzt geht es ums Überleben. Russland muss mit Banditismus und Terrorismus aufräumen, sonst geht es unter."
Eine Opposition gegen die Politik von Ministerpräsident Putin, der den "Banditismus ausräumen" will, gibt es so gut wie nicht. Sein Rating, das heißt, die wöchentliche Sympathiekurve für Politiker, ist seit Beginn des Feldzuges von Null auf Spitzenwerte gestiegen, die selbst hier in Moskau, wo jähe Aufschwünge und Abstürze an der Tagesordnung sind, Erstaunen erregen. Wladimir Putin ist derzeit der anerkannteste Politiker Russlands - ein starker Mann, auf den alle gewartet haben. Alle übrigen Politiker, sollten sie in Sachen Tschetschenien anderer Meinung sein, tauchen ab.
Das Land lechzt aber nicht nur nach dem starken Mann; es sehnt sich vor allem nach einem Sieg. Der Wunsch nach Revanche für zu viele Niederlagen ist unüberhörbar - Revanche für den verlorenen Kalten Krieg, die Verwandlung der realsozialistischen in eine kriminelle Gesellschaft, für das Desaster des ersten Tschetschenien-Krieges, für die Demütigung durch die NATO im Kosovo bis hin zur gegenwärtigen Haltung des Westens, der Russland verwehrt, das zu tun, was er selbst soeben gegen Serbien demonstriert hat. Schließlich ist man nicht wie die NATO über einen souveränen Staat hergefallen, sondern nimmt statt dessen in seinem eigenen Territorium Souveränitätsrechte wahr.
Vor diesem Hintergrund wird in Russland der Wahlkampf vor dem Votum über die Duma am 19. Dezember zum Wettstreit der Patrioten, die alle den Sieg versprechen - gleich welchen. Und der Patriot des Tages heißt zweifelsfrei Wladimir Putin, der Boris Jelzin eine unverhoffte Atempause im politischen Überlebenskampf verschafft hat. Der Krieg, den er zusammen mit der Generalität führt, unterscheidet sich nicht nur militärisch gesehen vom unprofessionellen Vorgehen, das mit dem ersten Waffengang im Kaukasus zu beobachten war. Putin hat überdies seine NATO-Lektionen gelernt und führt demzufolge diesen Krieg als Medienkrieg. Vieles bis hin zum täglichen Report des Hauptquartiers erscheint wie ein Remake der Brüsseler Inszenierungen vom Frühjahr. Dieselben Bilder, dieselbe Sprachregelung, dasselbe Imponiergehabe, dieselbe Schizophrenie im Bewusstsein der Bevölkerung, die einen von Spezialisten geführten Krieg im Sessel erlebt. Nur werden dazu nicht Bier und Chips, sondern Tee und Wodka konsumiert. Nichts könnte die Lage schärfer beleuchten als eine widerwillige Anerkennung, die Ludmilla Aleksejewa - die Präsidentin der Moskauer Helsinki-Gruppen - ihrem Gegner Putin zollt, wenn sie sagt: "Würde er bei Entscheidungen zur Ökonomie dieselbe Energie zeigen, die er jetzt auf den Krieg verwendet - er wäre mein Mann."
Putins Renommee wird so lange keinen Schaden nehmen, so lange der Krieg ohne größere Opfer - bisher soll es nach Angaben der Armee 162 Tote auf russischer Seite geben - siegreich zu enden verspricht, auch wenn zur Zeit niemand sagen kann, worin dieser Sieg eigentlich bestehen könnte. Sobald es aber eine wachsende Zahl gefallener Soldaten gibt, wird die Sprachregelung, wonach dieser Krieg kein Krieg und ein Flüchtling kein Flüchtlinge sei, sondern ein "zeitweiser Umsiedler", in sich zusammenbrechen. Es ist anzunehmen, dass Jelzin seinen siebten Premier dann fallen lässt wie die anderen sechs vor ihm. Aber noch passt der Krieg vorzüglich in die Strategie des Präsidenten-Clans, der unbeirrt auf Machterhalt um nahezu jeden Preis fixiert ist.
Worin kann unter diesen Umständen der Sinn des Votums am 19. Dezember bestehen?
Offenbar hat sich das auch Ex-General Alexander Lebed gefragt, als er sich ostentativ dem Wahlkampf verweigerte. Das Wiederaufflammen des Kaukasus-Krieges, mehr noch, die Verwandlung der einst von ihm ausgehandelten Waffenruhe in eine "terroristische Bedrohung der Existenz Russlands", hat ihn sein Image als Friedensgeneral gekostet. So bleiben als nach wie vor entscheidende politische Blöcke nur die Kommunistische Partei (KPRF), die Vereinigung Vaterland - das ganze Russland mit Moskaus Bürgermeister Luschkow und Ex-Premier Primakow und die Bewegung Jabloko mit dem im Westen beliebten Grigori Jawlinski sowie dem ehemaligen Ministerpräsidenten Stepaschin als Leitfiguren. Diese drei Formationen werden - in dieser oder jener Konstellation - die neue Duma besetzen. Einige entnervte Linke ebenso wie radikale Liberale betrachten den Urnengang daher als sinnlos und verweigern die Teilnahme. Für andere gilt er lediglich als Meinungstest. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl Pjotr Fjodossow - Berater des Vorsitzenden im Föderationsrat - wenn er erklärt, die neue Duma habe zwei sich widersprechende Aufgaben zu erfüllen: Sie müsse für Kontinuität und Wandel sorgen - im Sinne eines Fortgangs der demokratischen Reformen und eines sofortigen Endes der kriminellen Zerstörung Russlands. Dafür allerdings müss te in das neu zu wählende Unterhaus eine stabile patriotische Mehrheit einziehen, die in der Lage wäre, eine Verfassungsänderung zu beschließen, die der Regierung mehr Macht zuerkennt, während sie die des Präsidenten beschneidet. - Was aber geschieht, wenn keine "vernünftige patriotische Mehrheit" - wie Fjodossow das nennt - zustande kommt?
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