Wie viel Geschichte braucht man zum Leben? "Inzwischen ist sie abhängig von dem, was einmal war. Das ertrage ich nicht." Eine Plattenbau-Siedlung irgendwo in Leipzig. Es muss zu Beginn des Jahres 1999 sein. Die 24jährige Miriam besucht kurz nach Sylvester ihre Mutter. Sie hat einen neuen Freund. Viel zu sagen haben sich die beiden Frauen nicht. Mit der neuen Zeit, die nach der Wende begonnen hat, kann die alte Frau nichts anfangen. Mit der alten aber auch nicht. Sie will sich nicht an das erinnern, was gewesen ist. Sie will nur noch in Ruhe gelassen werden. Manchmal wiegt die Geschichte zu schwer, um damit weiter zu leben. Gerade deswegen lebt sie viel stärker im Banne ihres früheren Lebens als sie selbst es sich vielleicht wünscht. Erinnerungsresistenz und Erinne
d Erinnerungsfuror sind zwei Seiten derselben Medaille - der Abhängigkeit von der Geschichte. Anders als bei Miriams Mutter bricht nämlich im realen Leben, dreizehn Jahre nach der Wende noch einmal die große Erinnerung auf. Christa Wolf, Volker Braun und selbst die literarische Unperson schlechthin, Sascha Anderson, klopfen noch einmal die Vergangenheit ab, um herauszufinden, wie alles gekommen ist. In einer Flut von Lebenserinnerungen und Biographien von Hermann Kant über Inge Müller bis Fritz Rudolf Fries wird noch einmal jedes verfügbare Sandkorn der Erinnerung hervorgeklaubt, ehe es im Treibsand der globalisierten Historie untergeht. Die Träger des historischen Bewusstseins gehen - von Stefan Heym über Adolf Dresen bis Thomas Brasch. Vielleicht stirbt die DDR erst jetzt, eine gute Dekade nach ihrem Ende als Staatswesen. Ihre geballte Geschichte, die in diesem Frühjahr plötzlich noch einmal zwischen zwei Buchdeckeln beschworen wird, wirkt wie das letzte Aufbäumen vor dem endgültigen Verlöschen. Mit der Zukunft, die an der Vergangenheit klebt, will die Generation, die Anke Stelling und Robby Dannenberg in ihrem neuen Romannimm mich mitzu Wort kommen lassen, nichts zu tun haben. Hier sehnt man sich geradezu nach historischer Voraussetzungslosigkeit. "Ich weiß nicht, wie ich mal war, und ich bin nicht mehr so, und ich will es auch nicht mehr wissen" denkt sich die gebürtige Leipzigerin Miriam, als sie ihrer Mutter gegenübersitzt: "Meine Erinnerungen sind verbrannt. Vor langer Zeit hatte ich sie aus dem Kopf in den Rucksack verschoben, damit in meinem Kopf mehr Freiheit ist". Und der vierzigjährige Bernd, der seinen Lehrerberuf in Stuttgart an den Nagel gehängt hat und nach Leipzig gewechselt ist, will sein vorgezeichnetes West-Leben hinter sich lassen. "Frei von Erinnerungen" möchte auch er mal sein, als er sich im Bett neben seine schwierige Geliebte kuschelt. Wo könnte man das besser sein als im historienentsorgten Übergangsland Osten? Bernd und Miriam treffen sich eines Tages. Sie verkauft Weihnachtsbäume auf einem Markt in Leipzig. Der frischgebackene Buchladenbesitzer macht sich in seiner ungewohnten neuen Heimat auf den Heimweg zu einem einsamen Weihnachten. Auch wenn sich in diesem Roman der 1971 und 1974 geborenen Autoren die Mikroperspektive wiederfindet, auf die sich die allerjüngste Literatur allzu gern beschränkt. Die verkorkste Liebesgeschichte, die sich zwischen Miriam und Bernd entspinnt, ist nicht nur eine anrührende, ungemein intensive Geschichte über die Begegnung zweier Menschen, bei der man unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Sondern sie funktioniert auch erstaunlich gut als Metapher für die verkorkste Beziehung zwischen Ost und West seit dem Mauerfall. Da war Miriam fünfzehn. Dieser Generation brennt der ganze vermurkste Kleinkram, der seit dem historischen Urknall von 1989 zu bewältigen war, viel stärker auf den Nägeln als die ganz große, epochale Geschichtsphilosophie. Man kennt den Effekt seit Ingo SchulzesSimple Storys. Nicht in der historischen Apokalypse spiegelt sich die Dramatik dieser neuen Konstellation, sondern in den unmerklichen Katastrophen des Alltags, wo die Geschichte, wenn überhaupt, nur wie ein fernes Donnergrollen zu hören ist. Bernd und Miriam sind fasziniert voneinander. Aber sie können einfach nicht kommunizieren, woher sie kommen und was sie voneinander wollen. Aufbaudrang West trifft auf Fatalismus Ost. Zwar grenzt es an bedenklich an Kolportage, dass Miriam drogensüchtig ist und eine Zeit lang bei ihrer Freundin Tamara im Wohnwagen gewohnt hat, einer vagabundierenden Gelegenheitsprostituierten. Zwischendurch hat sie sich ein paar Wochen von irgendeinem zugereisten Makler, der in Leipzig leerstehenden Wohnraum verwaltet, gegen Sex aushalten lassen. Sie besitzt nur noch einen kleinen, blauen DDR-Kinderausweis. Das Bild vom käuflichen Osten mit infantilem Zigeunercharme, der seine innere Leere nur mit Drogen ausfüllen kann, ist etwas aufdringlich. Freilich stehen die Rauschmittel, mit denen sie sich in die besseren Träume flüchtet, auch für die Verlockungen der unkonventionellen Freiheit jenseits des historischen Optimismus West, der nun nach Osten schwappt. Miriams Gegenpart allerdings unterläuft das drohende Klischee. Da steht nämlich nicht gerade ein neuer Kolonisator. Bernd ist nämlich nicht der neue Kolonisator, Kreuzritter oder historische Schnäppchenjäger Ost. Sondern eher ein wohlwollender Gutmensch aus diffusem linken Milieu. Dem sind die alten Utopien West unmerklich schal geworden. Oder drohen sich im absehbaren Spießeralltag aufzulösen. Da kommt der Osten als Projektionsfläche für die unerledigte Veränderungshoffnung, die da immer noch unter der Haut pocht, gerade recht. "Du riechst vor allem nach meinen Träumen" flüstert er Miriam am Anfang ihrer Bekanntschaft noch ins Ohr. Nimm mich mit in ein neues Leben! Und auch den kleinen Buchladen betreibt der ehemalige Lateinlehrer mit einem Ost-Kompagnon Albrecht vorbildlich als joint-venture, als wollte er den skrupellosen Geschäftemachern, die drüben nur abzocken und abservieren sagen: Gleichberechtigung ist machbar, Herr Nachbar. Aber auch dieses sehr unterschiedliche Paar bedrohen zum Schluss schwere Kommunikationsprobleme. Die ziellose Miriam zieht zu dem einsamen Bernd. Ihr anfängliches Interesse aneinander wandelt sich. Warum liegt Miriam oft tagelang apathisch im Zimmer? Warum kann sie einfach nicht aufhören zu koksen und sich Spritzen zu setzen? Warum will sie dann plötzlich in seinem Laden mitarbeiten? Hat sie etwa was mit seinem Kompagnon Albrecht, der Miriam gut leiden kann? Verbünden sich die beiden Ossis hinter seinem Rücken gegen ihn? Bernds Angst ausgenutzt zu werden, wächst. Wofür braucht sie plötzlich 3000 Mark? Man hätte sich denken können, dass es Probleme mit der Diskursethik geben würde, wenn einer bei dem anderen nur unterschlüpft, man könnte auch sagen: beitritt. Doch nur an der asymmetrischen Konfliktlage liegen die Verständigungsprobleme von Bernd und Miriam nicht. Am Anfang blitzt noch etwas von der Euphorie auf, mit der man sich weiland seine Biografien hatte erzählen wollen. Eigentlich hatte Bernd alles von Miriam und ihrer Vergangenheit erfahren wollen. Doch es klappt nicht. "Nach Monaten weiß ich immer noch überhaupt nichts von Dir" klagt Bernd eines Tages. In der Spirale aus Schweigen und Misstrauen kommen sie nicht dazu, sich ihre Sympathien einzugestehen. Ganz nebenbei entsteht ein Bild des Ostens, der meilenweit entfernt von den blühenden Landschaften ist, die er einst versprochen bekam. Wie schon in ihrem ersten RomanGisela(1999), der auch in Leipzig spielt, erblühen hier vorwiegend verwahrloste Seelenlandschaften und gescheiterte Optionen. Der Aufschwung Ost hat die Fülle von Sprühsahne, die man in schlechten Cafes auf den Cappuccino bekommt. Oder er besteht aus Fiktionsökonomie wie Büchern und Heissluftcroissants. Hier herrscht die sterile Frische gerade sanierter Wohnungen. Die sind Warteräume, keine Lebensräume. Von der Etagenwohnung bis zum Regionalschnellzug - überall hängt ein PVC-Geruch in der Luft. Obwohl die Kulissen Leipzigs gut erkennbar sind, durchzieht einen Hauch von Ortlosigkeit dieses gesichts- und geschichtslose Terrain, besetzt mit McPaperläden und Pizza-Buden. Und die Fußgängerzonen, denkt sich Bernd, sehen hier inzwischen auch schon fast aus wie in Pforzheim. Anke Stelling ist in Ulm, Robby Dannenberg in Leipzig geboren. Beide haben zusammen am Leipziger Literaturinstitut studiert. Die beiden, die bis vor kurzem selbst noch ein Paar waren, haben sich schon mal vorsorglich wechselseitig den Literaturnobelpreis an den Hals gewünscht. Den kriegt man für gewichtigere Oeuvres. Aber der Anfang für ein Schreiben, das über das einfache lineare Erzählen hinausgeht ist bei diesen beiden jungen Autoren gemacht. Für ein politisches Kommunikationsproblem haben sie einen Ausdruck gefunden. Auch in ihrem neuen Roman wechselt ständig die Perspektive. Die Wahrheit hat vier Augen. Mal beschreibt Miriam Bernd, Mal Bernd Miriam. So schaffen es die Autoren, die unausgesprochene Beobachtung zwischen Ost und West wiederzugeben. Jeder beobachtet sehr genau. Verkriecht sich aber in das Schneckengehäuse seiner Wahrnehmungen. Am Ende bleiben Fremdheit und Angst. Für Bernd steht am Ende dieser Desillusionierung mit einem jähen Ausgang nur noch fest: "Er war nicht von hier. Er wollte hier nicht sein." Der Osten bleibt ihm fremd.nimm mich mitist ein Roman über die Hoffnung auf Veränderung! Die Hoffnung, die unversehens in Halbherzigkeiten und die Kette kleiner Enttäuschungen umschlägt. An deren Ende steht dann plötzlich wieder die bleierne Mittelmäßigkeit, der man entfliehen wollte. Anke Stellings und Robby Dannenbergs Buch ist ein Roman über die Herausforderung der Freiheit. Der man mittellos gegenübersteht. "Es musste anders werden", hatte sich Bernd eines Tages geschworen. Mit Miriam kam dann auch alles ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Erschrecken können hätte ihn der Ausgang dieser Liebesgeschichte nur, wenn er das Glück gewollt hätte, das die meisten Menschen wollen. Das Glück, das nicht gefährlich ist. Am Ende des Abenteuers bleibt er allein. Der Neuanfang ist erst einmal gescheitert. Die Adern der Freiheit sind leer. Die Hoffnung auf die Freiheit ist nun auch schon Geschichte. Wie schafft man es, nicht abhängig zu werden von ihr?Anke Stelling, Robby Dannenberg:nimm mich mit. Roman. S.Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2002, 314 S., EUR 19
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