Ein double bind ist eine in sich widersprüchliche Aufforderung. Wenn der Aufgeforderte den Widerspruch darin nicht zu durchschauen vermag, droht ihm die Schizophrenie. Gut, dass Völker nicht schizophren werden können. Oder reicht es als Diagnose schon aus, wenn die ganze Welt ein Land für verrückt hält?
Um in die EU zu kommen, müssen die Bosnier aller Volksgruppen nach Regeln spielen, die sie von dort wegbringen. Ihr Job besteht darin, eine Staatsmaschine am Laufen zu halten, die den Staat zerstört. Der Chef der bosnisch-muslimischen Partei, Sulejman Tihic, drückt es so aus: „Sie schenken dir ein Haus. Die einzige Bedingung ist: Du musst drüber springen.“
Die internationale Gemeinschaft, die den Bosniern solche Bedingungen auferle
solche Bedingungen auferlegt, ist mit den Details nicht so vertraut. Sie stellt nur in regelmäßigen Abständen fest, dass alles leider nicht so gut klappt. Dann gibt sie Empfehlungen: Die Verfassung reformieren. Zur Abwechslung einmal ganz andere Parteien wählen. Oder sich einfach am Riemen reißen.Das Regelwerk, an dem die Bosnier verzweifeln, wurde vor exakt 15 Jahren auf der Wright-Patterson Airbase bei Dayton im US-Staat Ohio ersonnen. Die Präsidenten von Bosnien (Alija Izetbegović), Serbien (Slobodan Milošević) und Kroatien (Franjo Tuđman) gossen in Klausur und unter dem strengen Regiment bulliger amerikanischer Undiplomaten ihre gegensätzlichen Vorstellungen in eine gemeinsame Verfassung für Bosnien-Herzegowina. Der wichtigste Grundsatz: Jedes Gesetz muss in jeder einzelnen der drei großen Volksgruppen – Nationen genannt – eine Mehrheit finden. Der Grundsatz ist unverzichtbar, weil ohne ihn die zweitgrößte Volksgruppe von der größten plus der drittgrößten immer überstimmt würde. Mit unterschiedlichen Ideen, Zielen, Kulturen oder was auch immer Parteien auf der Welt trennen mag, hat das nichts zu tun. Deshalb macht es für eine politische Erklärung des Desasters auch keinen Sinn, von Bosniaken, Serben und Kroaten zu reden. Die Volksgruppen in Bosnien und ihre Parteien wollen alle das Gleiche. Nur eben jeweils für sich.Absurder KompromissUm nicht übervorteilt zu werden, hat die zweitgrößte Volksgruppe, die der Serben, sich entschieden, ihren eigenen Laden aufzumachen und auf der Ebene des Gesamtstaats alles, was sie daran hindern könnte, zu blockieren. Die größte Volksgruppe und die internationale Gemeinschaft würden der zweiten Volksgruppe ihr Veto-Recht deshalb am liebsten wegnehmen. Die zweite Volksgruppe würde dagegen am liebsten ganz aus dem Staat aussteigen.Beide Positionen sind logisch; absurd ist nur der Kompromiss zwischen ihnen. Die ersten zehn Jahre nach Dayton forderten alle, die es mit dem Land gut meinten, ein „Dayton II“: eine rationale Verfassung, die Mehrheitsbeschlüsse möglich macht. Aber weil das Land politisch organisiert ist wie ein UN-Sicherheitsrat im Kleinen, gab es auch keinen Mechanismus, mit dem es sich selbst reformieren könnte. „Who has broken it, has it“, sagen die Bosnologen darauf. Das heißt: Die Amerikaner müssen wieder ran. Die aber haben nicht nur das Interesse verloren, sondern auch verstanden, dass jedes Dayton II wieder in der Aporie von Dayton I enden würde.Ein schwacher Trost für die Bosnier ist, dass sie mit ihrem Schicksal ein Lehrstück für den Rest der Welt sind: Sie erklären uns, was man in Zeiten der Demokratie unter einer „Nation“ zu verstehen hat. Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, in der die Minderheit sich der Mehrheit unterwirft. Mit gemeinsamen Werten hat das nichts zu tun. Nur weil die USA eine Nation sind, machen die Tea-Party-Leute nach dem Wahlsieg von Barack Obama nicht einfach einen eigenen Staat auf. In einen demokratischen Staat passt im Prinzip eine nach oben unbegrenzte Zahl von Ideologien, Volksgruppen, Sprachen, Konfessionen, Hautfarben – aber nur eine Nation. Bosnien-Herzegowina hat deren drei. Der Widerspruch lässt sich mit keiner noch so ausgefuchsten Verfassung aus der Welt schaffen.Alle definieren sich als OpferDer Versuch, aus den drei bosnischen Nationen eine einzige zu machen, wäre nicht der erste. An dem Vorhaben scheiterten schon die Österreicher, später der jugoslawische König Alexander, der alle zu Jugoslawen machen wollte. Nach dem Bürgerkrieg der neunziger Jahre ist das Bemühen ganz aussichtslos. Alle drei Nationen definieren sich als Opfer. Selbst wenn man sich auf einen Täter einigen würde, wäre dessen Rolle im gemeinsamen Staat unmöglich.Die jüngste Reformformel ist, man müsse das Vetorecht der drei Nationen beschränken auf Themen, die für den Bestand der Nation wirklich essentiell sind, kulturelle etwa. Die Idee ist nicht neu; demselben Denkfehler unterlag schon der Austromarxist Otto Bauer in seinem Werk über Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. Im gemeinsamen Staat ist die „Nation“ einfach durch die Konkurrenz definiert, nicht erst durch „Kultur“. Alles ist gleich wichtig. Ob eine Straße über A oder über B geführt wird oder ob ein Investor sich in diesem oder jenem Territorium ansiedelt, ist für den Bestand einer so verstandenen Nation womöglich entscheidender als der Geschichtsunterricht im Gymnasium.Dialektische Gegensätze löst man nicht, sondern man hebt sie auf. Im Falle Bosniens wäre das auch praktisch leicht zu machen. Man könnte die Volksgruppen – die Serben in der Republik Srpska, die Bosniaken und die Kroaten in den jeweiligen Kantonen der Föderation – sich weiter selbst verwalten lassen. Alle gemeinsamen Entscheidungen, die sie treffen müssten, fielen künftig nicht in Sarajewo, sondern in Brüssel. De facto tun sie das ja sowieso: Die Gesetze, die die Serben im Parlament blockieren, sind meistens Anpassungen an den Acquis der EU. Eine gesamtbosnische Außenpolitik gibt es ohnehin nicht; jede mögliche Initiative endete sofort im Patt. Und was es an Freiheiten und an Durchlässigkeit zwischen den Landesteilen braucht, bietet die EU im Großen und Ganzen ohnehin. Nur einmal genau hinschauen müssten die Europäer. Und Bosnien wirklich dabei haben wollen.