Abschied. Jemand geht, heißt ein Gedicht von Barbara Köhler. Nun ist die Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin selbst gegangen. Es war ein trauriger Auftakt des Lyrikjahres 2021 – und einer von vielen guten Gründen, in ihren Gedichten zu lesen. Geboren 1959 in Burgstädt, absolvierte sie eine Ausbildung zur Facharbeiterin für textile Flächenherstellung. Ihrem Beruf blieb sie insofern treu, als sie weiterhin „textile Flächen“ herstellte. Mit ihrem Band Deutsches Roulette (1991), der eine deutsch-deutsche Liebe und Trennung in den Blick nimmt, setzte Köhler schon den feinen, entschiedenen Ton, der für ihr Werk bestimmend blieb. Für Istanbul, zusehends, für den sie 2015 den Peter-Huchel-Preis bekam, hielt Köhler während eines fünfwöchigen Aufenthaltes in Istanbul ihre Eindrücke sowohl mit Worten wie auch mit einer Kamera fest.
„Ist das blindlings oder siehst du nur zuviel? / […] TAKE PICTURES AND PAY – bloß /dass es davon nicht weniger werden. Noch mehr / vom Gleichen, Ähnlichen – Bilder über Bilder. / Bis sich blindlings vielleicht oder bildlings / etwas verschiebt, in den Sucher, die Suchende / gerät, in den Blick: Das, siehst du, ist dein / Motiv – das zeigt dir, weswegen du hier bist“, das beschreibt, wie sich in Köhlers Texten Eindrücke der Sprache fügen.
Bleiben wir noch in Istanbul. So träume und verschwinde ich versammelt ausgewählte türkische Liebesgedichte von Edip Cansever, Cemal Süreya und Turgut Uyar in einer zweisprachigen Anthologie. Turgut Uyars Verse wurden 2013 von der Gezi-Park-Protestbewegung wieder aufgegriffen. Die Autoren in der Anthologie gehören zu den wichtigsten Dichtern der „İkinci Yeni“, der „Zweiten Neuen“, einer Gruppe, die Mitte der 1950er die türkische Lyrik erneuern und befreien wollte: Sie setzten Wortneuschöpfungen, agrammatische Formulierungen ein, und sie brachten ihre freiheitliche Haltung zu Sexualität oder Alkohol in ihre Verse ein: „Jede Leidenschaft ist der Anfang einer neuen / Die andere hebt schon den Kopf, bevor noch die / eine endet / Egal ob wir wollen oder nicht, so geht es weiter. // Eines Tages merken wir, daß wir alles vergessen haben / Weder die Leidenschaften, noch die unsterblichen / Worte sind geblieben. / Wir sammeln alles, sammeln alles, und dann – So viele Leidenschaften schufen die eine Leidenschaft […]“, heißt es in einem Gedicht von Edip Cansever in diesem schön gestalteten Band, der diese subversiven, träumerischen Sprach-Kraftfelder hiesigen Leser*innen zugänglicher macht.
Subversiv, changierend zwischen Trauma und Traum sind auch die Gedichte aus Gestohlene Luft des 1989 in Charkiv geborenen Lyrikers Yevgeniy Breyger. Dem Band gelingt mancherlei Erstaunliches: Einige der Gedichte bilden Blicke nach, wie sie Kindern eigen sind, Blicke, die sich in eine noch unbekannte Welt ausdehnen, die das Gefühl einer Fremdheit wiederbeleben, das je mehr in Vergessenheit gerät, desto älter man wird. Besser gesagt, erinnern sich diese Blicke ohne süßliches Sentiment, sie finden stattdessen eine Heimstätte im Unheimlichen der Kindheit: „im garten wachsen dicke kröten / mit blauen aufgeblähten köpfen / sie biegen sich in eine richtung / versammeln blütenstaub zu inseln / wenn ich an meine kindheit denke / will ich sie ohne scham bewundern // was weiß ich von der winterkälte“.
Verse wie diese auf der Folie von Märchen oder Halluzinationen auszudeuten, griffe aber zu kurz. Wenn hier aus der viel beschworenen blauen Blume der Romantik eine Kröte mit blauem Kopf wird, wächst einem universalpoetischen Traum etwas Albtraumhaftes zu, changiert das Gedicht zwischen Traditionsbewusstsein und einem Weiterdenken lyrischer Traditionen, wie es sich auch im Titel des Bandes ausdrückt: Gestohlene Luft zitiert nicht nur eine Wendung des russischen Dichters Ossip Mandelstam, sondern ruft mit der Luft das für die Poesie wohl maßgeblichste Element auf.
Mit dem Stichwort „Tradition“ springen wir ins 17. Jahrhundert. Am 24. Februar 1621 kam Sibylla Schwarz in Greifswald inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Kriegs als Tochter des Bürgermeisters zur Welt. Sie starb mit 17 und hinterließ 300 Gedichte – ein beeindruckendes Werk, das Gebrauchslyrik, Schäfergedichte, Liebessonette und Kirchenlieder umfasst. Ihr Werk, das 1650 zuerst in einer Gesamtausgabe durch den Theologen Samuel Gerlach herausgegeben wurde, spiegelt das regelpoetisch orientierte Handwerk des Dichtens der Zeit, in dem noch der Petrarkismus widerhallt. Und noch mehr: Denn womöglich spricht öfter ein weibliches lyrisches Subjekt eine Frau an. Lesbische Liebeslyrik im Barock also? Klaus Birnstiel, der die Erstausgabe nach der Gestalt von Gerlachs Ausgabe nun neu herausgibt, weist in seinem Nachwort darauf hin, dass Schwarz in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten mehrfach für „kanonpolitische Revisionsmanöver“ herangezogen wurde.
Sich auf einige zeitlich bedingte Fremdheit einzulassen, die Texte als Zeugnisse einer fernen Epoche zu lesen, scheint hier lohnender. Gleich drei Ausgaben ermöglichen dies auf je unterschiedliche Weise: Während Birnstiel die originale Textgestalt der Ausgabe mitsamt Druckfehlern beibehält, hat der Greifswalder Michael Gratz die Texte nach Gattungen geordnet. Am deutlichsten an unsere moderne Schriftsprache angepasst, hat Gudrun Weiland die Gedichte.
Drei Gedichte von Sibylla Schwarz finden sich in der Anthologie Frauen / Lyrik. Sie sammelt Gedichte von Roswitha von Gandersheim, Hildegard von Bingen bis zu Lady Bitch Ray. Es sind Gedichte nicht nur von Frauen, sondern auch solche, die eine weibliche Perspektive einnehmen. Dadurch ermöglicht Anna Bers’ Anthologie einen multiperpektivischen Blick, die Sammlung regt zu produktivem Widerspruch an.
Einem traditionelleren Geschlechterverhältnis verhaftet sind die Gedichte aus dem Nachlass des Schweizer Pfarrers und Dichters Kurt Marti. Die Gedichte, die sich nach dem Tod des vor hundert Jahren Geborenen, der 2017 starb, in einer Schublade fanden, sprechen vom Zusammenleben mit und dem Tod von Martis Frau Hanni, über das Altern und Sterben, die Welt und Gott. Sie sprechen Gedachtes und Empfundenes unverblümt aus, konzentrieren sich auf Elementares. In ihrer Direktheit deuten sie auf ein tiefes Denken und Erleben. Wer sie liest, erfährt von einer großen Liebe – und von einer Lücke, die nicht mehr zu schließen ist, wenn jemand geht, gegangen ist: „Wer wohlmeinend kommt / und mir etwas faselt/ von ‚Trauerarbeit‘, / hebe sich weg von mir“.
Als Zugabe soll hier noch der Hinweis auf die 96. Ausgabe der Zeitschrift Schreibheft stehen. Die Zeitschrift feiert den 150. Geburtstag von Christian Morgenstern mit einem von der Sprachakrobatin Mara Genschel ausgerichteten „Festchen“. Im Grußwort lobt Helge Schneider den Dichter, den nichts davon abhielt, „den ganzen Tag im Morgenmantel rumzulaufen“, erinnern sich Autorinnen wie Sonja vom Brocke und Monika Rinck an Gedichte Morgensterns, treffen wir noch einmal auf Barbara Köhler, die ebenfalls mit einem Gedicht dieses großen Humoristen gedenkt.
Info
Deutsches Roulette. Gedichte Barbara Köhler Suhrkamp 1991, 87 S., 12 €
Istanbul, zusehends. Gedichte / Lichtbilder Barbara Köhler Lilienfeld Verlag 2015, 88 S., 18,90 € (derzeit vergriffen, Nachauflage für März 2021 geplant)
So träume und verschwinde ich. Türkische Liebesgedichte von Edip Cansever, Cemal Süreya und Turgut Uyar. Zweisprachige Ausgabe Angelika Overath, Nursel Gülenaz (Hrsg.), btb 2020, 128 S., 10 €
Gestohlene Luft Yevgeniy Breyger Kookbooks Verlag 2020, 72 S., 19,90 €
Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden Sibylla Schwarz Gudrun Weiland (Hrsg.), Secession Verlag 2021, 192 S., 20 €
Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe, Bd. 1: Briefe, Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode, Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung Sibylla Schwarz Michael Gratz (Hrsg.), Reinecke & Voß 2021, 192 S., 20 €
Deutsche poetische Gedichte. Nach der Ausgabe von 1650 Sibylla Schwarz Klaus Birnstiel unter Mitarbeit von Jelena Engler (Hrsg.), Wehrhahn Verlag 2021, 304 S., 20 €, erscheint Mitte März
Frauen / Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache Anna Bers Reclam Stuttgart 2020, 879 S., 28 €
Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass Kurt Marti Mit einem Nachwort von Nora Gomringer, Wallstein Verlag 2021, 90 S., 14,90 €
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur Norbert Wehr (Hrsg.), Ausgabe 96. Februar 2021, 156 S., 15 €
Kommentare 3
Anregung
Es gab ein Sein
vor den Mikroben,
das war aus Stein,
von Stille ruhig umgeben.
Mehr ist nicht zu erkennen,
so weit der Blick auch reicht,
nach vorne schauen,
nicht maulen, nicht verzagen.
Mut muss sein
mit gespannter Kraft,
ist alles federleicht,
wohl müßig zu ertragen.
Einmal im Leben möchte ich ...
Ein Stein sein,
Ein Stein sein der rollt,
Ein Stein sein der rollt und kiest,
Ein Stein sein der rollt und kiest und sandet,
Ein Stein sein der rollt und kiest und sandet und sedimentiert.
Der Wind sein,
Der Wind sein der pustet,
Der Wind sein der tobt,
Der Wind sein der ruht.
Ein Berg sein,
Ein Berg mit Schnee sein,
Ein Berg sein auf dem der Schnee glitzert,
Ein Berg sein auf dem der Schnee glitzert und taut.
Ein Wassertropfen sein
Ein Wassertropfen sein der fällt,
Ein Wassertropfen sein der fällt und versinkt,
Ein Wassertropfen sein der fällt, versinkt und nährt,
Ein Wassertropfen sein der fällt, versinkt, nährt und blüht.
Ein Baum sein,
Ein Baum mit Blättern sein,
Ein Baum mit Blättern sein die blühen,
Ein Baum mit Blättern sein die duften,
Ein Baum mit Blättern sein die verwelken.
Die Sonne sein,
Die Sonne sein, die aufgeht
Die Sonne sein, die strahlt,
Die Sonne sein, die strahlt und photographiert,
Die Sonne sein, die strahlt, photographiert und ernährt.
Die Sonne sein, die untergeht und wieder aufgeht.
Sehr schön! Bitte noch mehr zu Breyger, das ist das absolute Buch des Jahres!
Ich wusste es nicht: Barbara Köhler mit nur 61 gestorben. Das ist so traurig.
"Langsam löst sich das bild auf vor den augen. Langsam löst es sich von der wand. Löst sich langsam in nebellicht und bewegung langsam liegt’s nicht mehr auf der hand. Langt nicht mehr hin hält nicht mehr fest sieht nicht mehr stellt es nicht her weht geht in die augen kreisen und fallen wirbeln weisses wie schnee und wie dunkel es fällt kristallen so kalt ein sturm ein halt" - So kann ein Turner-Bild mit Worten gemalt werden.
"SIE BEWUNDERN SIE/BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:/SIE WIRD ODER WERDEN GROSS/ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO/STEHEN SIE VOR IHNEN IN IHRER SPRACHE/WÜNSCHEN SIE IHNEN/BON DIA GOOD LUCK"
Mit dem Gedicht war sie eine würdige Ablösung für Gomringer an der fassade der Alice-Salomon-Hochchule in Berlin.
Danke für diesen Lyrik-Artikel. Warum nicht öfter mal ein Gedicht im Freitag? Zum 150. von Rosa L. hätte es z.B. gepasst. Es gibt einige Dichtungen mit Bezug zu ihr...