Leidensgestalt

MENSCHEN AUF DER FLUCHT Sebastiao Salgados neuer Bildband »Migranten«

Migranten heißt der neue Bildband von Sebastiao Salgado, und Migranten ist bekanntlich auch eine Bezeichnung für die Menschen nichtdeutscher Herkunft in der Bundesrepublik. Der Begriff hat sich in den letzten Jahren eingebürgert, weil er moderner und vor allem weniger ideologisch klingt als die herkömmliche Bezeichnung »Ausländer«. Wer aber von dem Buch des mittlerweile vielleicht berühmtesten Dokumentarfotografen der Welt ein zeitgemäßes Panorama von Einwanderungsgesellschaften erwartet, der wird enttäuscht. Denn der Band handelt eigentlich nicht von Einwanderern, sondern von Menschen auf der Flucht. Er wolle »die Geschichte einer in Bewegung geratenen Menschheit» erzählen, meint Salgado in seinem Vorwort. Seit Anfang der Neunziger hat er daher »Armutsflüchtlinge» an den Grenzen von USA und EU fotografiert, ethnische Flüchtlinge in Ex-Jugoslawien oder Ruanda sowie Menschen auf der »Landflucht» in den Metropolen Asiens und Lateinamerikas.

Er selbst sei vor der Militärdiktatur in Brasilien nach Europa geflohen, betont der heute in Paris lebende Salgado. Daher könne er sich mit Flüchtlingen identifizieren. Seine Bilder sollen die Sensibilität für das zunehmende Elend verstärken. Freilich kann man dieses hehre soziale Anliegen mit Fug und Recht anzweifeln. Wenn der westliche Betrachter den aufwendigen Bildband zur Hand nimmt, dann wird ihm in erster Linie ein hochästhetisches Panorama geboten. Nur selten fangen Salgados Bilder tatsächlich Situationen ein; es gibt kaum Dynamik. Im Mittelpunkt der Bilder stehen häufig charaktervolle Gesichter. Der überwiegende Teil der Fotos ist ganz bewusst inszeniert - eine kunstvolle Mischung aus Antlitz, Ambiente, Natur, Licht. Noch deutlicher wird diese Arbeitsweise bei den Porträts von Kindern, aus denen er einen Zusatzband gemacht hat. Salgado verwandelt das Foto zurück in ein Gemälde.

Dabei bietet der Fotograf dem Publikum eine perverse Identifikation an. Denn mit seiner Hilfe darf der Betrachter in seinem Sessel sich selbst in einen »Migranten» verwandeln, in einen ruhelosen Wanderer durch die pittoreske Vielfalt globalen Elends: Knorrige Balkanfrauen mit Kopftüchern, Kinderspiel im Lager, staubige Straßen unter afrikanischem Himmel, Amazonasindianer im traditionellen Schmuck, urbane Überfüllung in Indien. Die Perspektive dieser Wanderung ist im besten Falle die von Hilfsorganisationen, im schlimmsten Falle jene von Zollbeamten oder Lagerwärtern. Die Flüchtlinge bleiben derweil einfach passive Leidensgestalten. Fast fühlt man sich zurückversetzt ins 19. Jahrhundert: Die gut situierten Bürger machen die fernen Marginalisierten zu Objekten einer ästhetischen Neugier.

In diesem Sinne ist es sicher kein Wunder, dass Salgados letztes großes Projekt »Arbeiter» hieß. Hier wird nun die »Völkerschau» quasi hinterher geliefert. Diese Bilder sprechen eben nicht von Veränderung, sie präsentieren eine schaurig schöne und exotisierte Apokalypse. Schaudernd beobachtet Salgado allerorten eine Wendung zum Schlechteren und überlässt sich einer anthropologischen Melancholie - er fragt sich, ob es »den Menschen je gelingen wird, ihre dunkelsten Instinkte zu beherrschen«. Die Ästhetisierung einer als schicksalhaft wahrgenommenen Welt in der Dauerkatastrophe ist zur Zeit en Vogue: Man denke nur an den ähnlich gelagerten Bildband People and Places with no Names des Schweizer Starfotografen Michel Comte.

Dass Salgados Völkerwanderungsepos mit hier lebenden Einwanderern in Verbindung gebracht wird, ist allerdings die Schuld des Verlages. Denn in Frankreich trug das Buch nicht den Titel Migranten, sondern hieß Exodes. Das Wort gibt es im Deutschen nicht; es handelt sich um die Mehrzahl von Exodus. Durch die misslungene Namensgebung bringt Zweitausendeins das noch weitgehend unbelastete Bild der Migranten wieder mit dem der »Ausländer» zusammen. Und letzteres war und ist in Deutschland bekanntlich eher negativ - in den letzten Jahren hat es sich oft genug zwischen Kopftuch und Kriminalität eingependelt. Durch Salgados Buch sehen »Migranten» nun wieder wie »Ausländer» aus - entwurzelt, armselig, exotisch, bedrohlich.

Sebastiao Salgado: Migranten, Kinder der Migration, beide Bände Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2000, 431 S., 112 S., 99.- DM, 35,- DM. Zusammen kosten beide Bände 119.-DM

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