Der 11. September 1958 war für die französischen Sozialisten der Beginn einer langen Katharsis. An jenem spätsommerlichen Tag nahmen im Pariser Vorort Issy-les-Moulineaux Hunderte Genossen an langen Tischreihen auf ihren Holzstühlen Platz. Nicht nur die Tabakschwaden der ausschließlich männlichen Delegierten sorgten für dicke Luft. Den verzweifelten Mahnungen, Appellen und Flüchen zum Trotz votierten die Delegierten wenige Stunden später für ihr eigenes politisches Todesurteil. Die Sozialistische Partei stimmte mehrheitlich für das Referendum von Charles de Gaulle, der damit die IV. Republik abschaffte und ein Präsidialsystem einführte.
Dieser Septembertag war das Finale eines beispiellosen Scheiterns sozialistischer Politik u
Politik und absoluter Tiefpunkt in der 53-jährigen Geschichte des „alten Hauses“, wie die Sozialisten ihre Partei liebevoll nennen. Sie hatten die IV. Republik in den Ruin verwaltet und waren durch den eskalierenden Algerienkrieg handlungs- und entscheidungsunfähig geworden. Parteichef Guy Mollet musste um die Rückkehr de Gaulles betteln, der mit seinen Verfassungsreformen im Oktober 1958 die V. Republik einführte. Dem politischen Gegner zur Macht zu verhelfen und ihm dann noch die Absolution dafür zu geben, die Demokratie einzuschränken – quelle honte! Diese Blamage katapultierte die Genossen für 23 Jahre in die Opposition. Erst mit einem linken Wahlbündnis unter François Mitterrand konnten die Sozialisten 1981 wieder in den Élysée-Palast einziehen.Viele FlügelÄhnlich stürmisch geht es in der heutigen Parti Socialiste (PS), gut 20 Jahre nach dem Tod von Mitterrand, zu. Die Partei, zersplittert in unzählige ideologische Flügel, stellte in der ersten Runde der Primaire für die Präsidentenwahl im April/Mai nicht weniger als sieben recht aussichtslose Kandidaten auf und ist gebeutelt von ständigen Austritten von der Basis bis zur Führungsriege. Ihr Präsident François Hollande ist der erste und einzige Präsident der V. Republik, der nach fünf Jahren freiwillig auf eine Wiederwahl verzichtet, und seine ehemaligen Minister spielen die Melodie auf den Abgesang der Sozialdemokratie. Die Partei braucht eine Kur. Und es sieht ganz danach aus, als würde sie die auch bekommen. Ein Rückblick in die 1960er Jahre zeigt: Das wäre nicht das Schlechteste.Von der Generation der Sozialisten, die sich noch an die dunkle Stunde des 11. September 1958 erinnern, sind heute nur noch wenige am Leben. Erst im vergangenen Jahr starb mit 86 Jahren einer ihrer prominentesten Köpfe, Michel Rocard. Er gehörte nach dem Schicksalskongress zu den Delegierten, die das sinkende Schiff ihrer Mutterpartei verließen. Die Partei sei damals nichts weiter als ein schwerfälliger Apparat gewesen, erinnerte sich Michel Rocard noch 2014 im Gespräch in seinem Büro. Alle Versuche, mit den Genossen Grundsätzliches zu diskutieren, seien gescheitert und neue politische Konzepte seien für sie nur Tagesordnungspunkte gewesen, die es schnell abzuhaken galt. Zusammen mit ehemaligen sozialistischen Ministern, aber auch Trotzkisten und Kommunisten, die gegen den stalinistischen Kurs der Kommunnistischen Partei (KPF) rebellierten, hatte er deshalb 1960 eine neue Partei zur Restauration der alten Linken gegründet: die Parti Socialiste Unifié (PSU).Die Abwesenheit einer politisch linken Kraft, die eine stringent sozialistische Politik im Namen des – auch von Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre eingeforderten – Humanismus verfolgte, hatte eine Leerstelle links der Sozialisten geschaffen – und dort entstand die Neue Linke, deren Teil die PSU wurde.Der Philosoph und ehemalige PSU-Anhänger Alain Badiou schreibt, dass er und sein Vater schon vor 1958 das „alte Haus“ der Sozialisten reformieren wollten – bis dahin vergeblich. Denn trotz ihrer offiziell marxistisch-orthodoxen Parteilinie war die Politik der Sozialisten nach dem Krieg wenig revolutionär. Durchbrüche erreichten die sozialistischen Minister weder bei Arbeitsrechten und der Mitbestimmung in den Betrieben noch im Gesundheitssystem oder bei der Frage der Migranten, die immer noch unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Pariser Vororten wohnten. Auch Mitterrand verhängte als sozialistischer Justizminister Ende der 1950er Jahre zahlreiche Todesurteile über algerische Widerstandskämpfer – ein Grund, warum der damalige Präsident in spe in der Neuen Linken nicht gern gesehen war. Sozialisten wie Badiou oder Rocard glaubten Ende der 1950er Jahre deshalb, dass die herkömmliche sozialistische – und für sie kolonialistische – Politik – ebenso wie die stalinistische KPF – ausgedient habe, und begaben sich zusammen mit Studenten, Kriegsgegnern und Intellektuellen auf den steinigen Weg einer grundlegenden Revision linker Ideologie und Praxis.Über zehn Jahre arbeiteten diese sozialistischen – und kommunistischen – Abweichler an Konzepten wie der autogestion (Selbstverwaltung) sowie der Mischung planwirtschaftlicher und marktwirtschaftlicher Wirtschaftsansätze. Raus aus der autoritären Tradition der linken französischen Bewegungen und des französischen Zentralismus und hinein in eine neue, basisdemokratische Logik.Um der Krise der linken Parteien und Bewegungen zu begegnen, schufen diese Sozialisten im Vorfeld der Mai-Revolte von 1968 ein politisches „Laboratorium“. Dabei übten sie einen ideologischen Spagat zwischen den Ikonen der sozialistischen Bewegung wie Léon Blum, Marceau Pivert und Pierre Mendès France sowie Rosa Luxemburg, Jean Jaurès und Karl Marx.Dieses Ideenlabor löste sich nach den Studentenrevolten auf. Es entstanden soziale Bewegungen wie die Frauen- und Umweltbewegung, und die Diskurse der Neuen Linken beeinflussten die beginnende Restaurierung der französischen Sozialisten, die sich 1969 mit der Parti Socialiste neu erfanden. Viele der Abweichler von 1958 gingen Ende der 1960er Jahre wieder zurück an Bord der Sozialistischen Partei, einige wie Michel Rocard bekleideten später unter Mitterrand hohe Ämter.Die Probleme, die von der französischen Neuen Linken in den 1960er Jahren durchdacht wurden, sind hochaktuell. Die Forderung von Bürgerbewegungen im heutigen Europa nach direkter Demokratie und die Kritik an parlamentarischer Repräsentation sowie die Frage, wie viel Markt und Staat eine Gesellschaft benötigt, werden seit dem Aufkommen der globalisierungskritischen Bewegung und der wirtschaftlichen Krise vieler europäischer Länder wieder neu gestellt. Auch der Unmut über starre, elitäre Parteistrukturen ist wieder in aller Munde. Und der Balanceakt zwischen sozialdemokratischem Anspruch und realpolitischem Handeln beschäftigt die französischen Sozialisten heute mehr denn je – und ist mittlerweile eine Frage des Überlebens. Geblieben ist allerdings auch die Spaltungswut der Genossen. Während die PS ausblutet, beharken sich ihre Abweichler.Labor des WandelsDa wundert es nicht, dass sich Teile der Linken aus der Parteiarbeit verabschiedet haben. Sie versammeln sich seit vergangenem Frühjahr auf dem Place de la République – keine zwei Kilometer von dem Ort entfernt, wo ein Heer linker Anhänger dem Präsidenten Hollande 2012 noch zujubelte. Die Bewegung „Nuit debout“ macht dort gegen das herkömmliche Demokratiemodell mobil. Ähnlich wie die Neue Linke in den 1960er Jahren wollen sie „Labor“ sein – für neue politische Wege und demokratische Strukturen. Von der Präsidentschaftswahl halten viele Aktivisten nichts.Spannungen zwischen sozialen Bewegungen und linken Parteien sind nichts Neues: Schon in den 1960er Jahren torpedierten linke Strömungen die Debatten um die Teilnahme an Wahlen mit Parolen wie „Élection, trahison“ („Wahlen sind Verrat“). Damals diskutierten linke Parteien wie die Parti Socialiste Unifié über die Auflösung hierarchischer Parteistrukturen und den Versuch, die Partei als soziale Bewegung zu verankern. Das endete allerdings mit der Marginalisierung und schließlich der Auflösung der Partei. Einige der ehemaligen „Laboranten“ sympathisieren heute mit der Bewegung „Nuit debout“. Sie glauben immer noch, dass es Alternativen zum Präsidialsystem der V. Republik gibt – nicht wenige fordern eine demokratischere VI. Republik. Andere wie Rocard machten im Parteiensystem Karriere und regierten an Mitterrands Seite.Eines haben die letzten Überlebenden dieser Generation aber gemeinsam: Sie sind oder waren fest davon überzeugt, dass sich die sozialistische Partei abermals erneuern muss. Die „Lektion Hollande“ könnte wieder der Beginn einer langen Katharsis sein.Placeholder link-1