Das Motiv der unbestimmten, melancholischen Verlorenheit ist leider eines der abgenutztesten in der Literatur und Kunst, zumal der des Undergrounds. Ihm hängt die nervige Verwöhntheit einer Effi Briest an, die protestantische Egozentrik der Sue von Amos Kollek oder das zynische „Arm, aber sexy“-Gedöns Berliner In-Bezirke. Es ist zwar ein kleiner Unterschied, aber einer ums Ganze: Aufgesetzte Melancholie gegen wirkliches Leiden am Dasein. Erstere unterscheidet Trend-Literatur von einer wirklichen, die das Leben ausloten möchte in seiner farbenreichen Palette, Grautöne inklusive. So wie es Leander Sukov mit dem Warten seiner Protagonistin auf Ahab vollbringt.
Dieses Warten auf Ahab tut weh. Muss es auch. Wenn nicht, wäre es eben nur kreativ und sexy und moralisch richtig wie die notorische Berliner Baumwolltasche, aber so, wie das Buch geschrieben ist, ist es wuchtig, defätistisch und erotisch. So beginnt schon der Prolog verheißungsvoll und Furcht einflößend zugleich, Dialektik auf dem Kreuzweg der Liebe: „Die Anderen waren zu einer anderen Zeit. (…) Wir aber schauen zurück. Täten wir es doch nur im Zorn! (…) Hinter uns der Zorn dann, und vor uns die Hoffnung. Ich verlasse das Dorf. Heute noch, gleich.“ Die junge Dame, deren Weg Sukov aus der Ich-Perspektive verfolgt, wird es zum Studium und zum Leben nach Berlin ziehen. In ein Dorf also, das für „Nennt mich: Marie“ nur die Steigerung der dörflichen Idiotie ist: Eine Mischung aus neuer Reichshauptstadt und Öko-Hölle. Mit jeder Zeile wird einem die Espresso-Marie sympathischer, wenn sie durch die Gentrifizierungs-Zone des Prenzlberg stolziert. Diese ganz neue Berliner Republik fertigt sie in drei Sätzen ab, und mehr ist dazu auch nicht zu sagen. Was für eine Frau, mit Zorn und Zärtlichkeit, Chapeau: „Jemand drückt mir ein Flugblatt in die Hand. Ein Info-Stand der Grünen. ,Was macht der Hufeisenplan?‘, frage ich. Sie sehen mich verständnislos an.“
Diese Frau, die so cool erscheint, „will nicht einsam sein, aber auch nicht mit irgendwem. (…) Ich will nicht einsam sein, aber auch nicht zwei sein.“ Die konsumistische Wahllosigkeit, die die Warengesellschaft offeriert, weist Marie auch in der Liebesökonomie zurück. Verweigerung erscheint ihr begehrenswert und macht sie begehrenswert.
Die Jute-Klarheit
Marie wird Männer kennenlernen, viele Männer, die meisten von ihnen zurückweisen – und damit ihre eigenen Bedürfnisse verleugnen. Das typisch weibliche Selbstmitleid ist von Zeit zu Zeit etwas überzogen, erinnert in seinem Realismus aber nicht nur an die hysterische Nerv-Ministerin Kristina Schröder, die ja auch permanent mit sich selbst überfordert scheint.
Das Faszinierende an Sukovs Werk, das nur nach Tagesdatum gegliedert ist und sich keinem Plot unterwirft, ist die libertierende Umkehrung der famosen Urbanitäts-Metapher in die Darstellung eines freigewählten Gefängnisses sich für trendig und fortschrittlich haltender Kleingeister. Mit jeder Zeile keimt der Verdacht, dass Marie es in der Provinz, der sie entfloh, doch besser gehabt hätte.
Oder eben gerade nicht, weil beides unerträglich sein kann, wenn man zumeist sensibel, feingeistig und sinnesbetont ist wie Marie und Deutschland eben das hässliche Deutschland bleibt, hier wie dort, auf den Antifa-Demos, die Marie besucht, gleich im mittlerweile gesundheitsbewussten Café Einstein, in dem sie an ihrem Espresso nippt. Der Jute-Klarheit des neuen Gernegroß-Deutschland setzt die genüsslich rauchende Marie einen altertümlich-klassischen Romantismus entgegen, der auch und vor allem körperlich schwelgt, als müsse es zehn Morgen geben.
Die schöne, subjektivistische Sprache, die Sukov in der Tradition Peter Handkes benutzt, wäre noch steigerungsfähig, erinnert in ihrem bedenkenlosen Materialismus aber ans detailliert Monologische von Antonio Lobo Antunes oder Nanni Ballestrini ("I Furiosi"): ein temperiertes Meer der Silben, in dem der Wind des Temperaments die Wörter vor sich her treibt. Stilistisch wie gedanklich ist Sukov eine Lektüre für Menschen, die Berlin hassen (Marie: „Wir sind die Wenigen“), weil Berlin so ist, wie die Welt in ihren momentanen Verhältnissen ist. Dass die linke Avantgarde auch nicht besser ist, beschreibt Sukov eindrucksvoll – und ausreichend. Was bleibt, ist also nur das Warten auf Ahab. Und auf Marie.
Warten auf Ahab oder Stadt Liebe TodLeander Sukov, Kulturmaschinen 2012, 279 S., 17,80
Marcel Malachowski schreibt im Freitag über Musik und soziale Aspekte unserer Gesellschaft
Kommentare 16
immer wenn im Freitag ein männlich sozialisierter Mensch das Wort erotisch in den Mund nimmt, ahnt man schon: gleich kommt was sexistisches, und ta daaaa: "Das typisch weibliche Selbstmitleid". Wenn wir nur alle richtige Männer wären, und das harte Leben als ECHTE Märtyrer zu nehmen wüssten.^^
stieß auf herrn sukovs website auf diesen link zum thema ddr-literatur. der ist echt putzig und paßt zum öfter mal gehabten thema geschichtsklitterei:
www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1734518/
Vielleicht irre ich mich ja, aber ich habe den Eindruck, diese Buchbesprechung ist kein Verriß, vielmehr eine Lobeshymne. Gut.
Auch wenn es wahrscheinlich eh keinen interessiert, ich sag es doch: Auf diese Buchbesprechung hin würde ich mir niemals den Roman von Leander Sukov besorgen. Ich mein, ein Satz wie "Die schöne, subjektivistische Sprache, die Sukov in der Tradition Peter Handkes benutzt, wäre noch steigerungsfähig, erinnert in ihrem bedenkenlosen Materialismus aber ans detailliert Monologische von Antonio Lobo Antunes oder Nanni Ballestrini ("I Furiosi"): ein temperiertes Meer der Silben, in dem der Wind des Temperaments die Wörter vor sich her treibt."...
Ein Satz wie dieser also peitscht mich nicht sonderlich auf. Im Grunde erfahre ich hier nur, daß Herr Malachowski Antonio Lobo Antunes und Nanni Ballestrini gelesen hat. Hand aufs Herz, Leute, wer von euch hat Antonio Lobo Antunes oder Nanni Ballestrini, gelesen, das heißt so intensiv gelesen, daß er mit dem Vergleich irgend etwas anfangen kann? Etwas Unbekanntes dadurch erklären, daß man es mit etwas noch Unbekannterem vergleicht...
Was mich an einer Buchbesprechung tatsächlich interessiert hätte, wäre: Wer ist eigentlich dieser Ahab? Ist es der Kapitän aus "Moby Dick"? Und warum wartet die Marie auf den?
Ciao
Wolfram
Ich würde mich davon nicht abhalten lassen @Wolfram Heinrich.
Die Rezension hat mich dazu verleitet, das Buch zu kaufen und die Lobeshymne ist, finde ich, berechtigt. Ich habe es verschlungen. Es öffnet einen Blick auf Berlin, der sehr vom Üblichen abweicht.
Übrigens gibt es hier: www.freitag.de/buch-der-woche/warten-auf-ahab
eine Leseprobe und etliche andere Rezensionen.
Dort wird übrigens auch die Frage nach Ahab beantwortet ;-)
Schönen Tag noch,
Miriam
@Miriam Müller
Ich würde mich davon nicht abhalten lassen @Wolfram Heinrich.
Liebe Miriam, ich wollte auch niemanden davon abhalten, das Buch zu kaufen und zu lesen. Mein - etwas ätzender, ich geb es zu - Kommentar bezog sich nicht auf das Buch selber (das ich nach wie vor nicht kenne, also gar nicht beurteilen kann), sondern auf die Rezension durch Marcel Malachowski. Ich habe gewissermaßen die Rezension rezensiert.
Es gibt ja diesen wunderschönen Comment, daß man Kritiken von Romanen, Filmen und anderen Kunstwerken ihrerseits nicht kritisieren soll. Eine feine Sache das, für Kritiker. Nun halte ich mich manchmal nicht an Regeln. In diesem Falle habe ich einfach frech eine Literaturkritik, einmal geschrieben und veröffentlicht, selber zum Kunstwerk und erklärt und sie kritisiert.
Die Rezension hat mich dazu verleitet, das Buch zu kaufen und die Lobeshymne ist, finde ich, berechtigt.
Berechtigt mag sie sein, verlockend ist sie nicht, nicht für mich, muß ich einschränkend sagen.
Es öffnet einen Blick auf Berlin, der sehr vom Üblichen abweicht.
Das ist natürlich ein weiterer Grund für mich, das Buch nicht zu kaufen. Sooo interessant ist der lokale Tratsch dieser doch etwas abgelegenen Ortschaft für einen Außenstehenden auch wieder nicht.
Ciao
Wolfram
@ Wolfram Heinrich
"Sooo interessant ist der lokale Tratsch dieser doch etwas abgelegenen Ortschaft für einen Außenstehenden auch wieder nicht."
Und das vor allem, wenn man bedenkt, dass du davon überzeugt bist, dass es Berlin gar nicht gibt.
@oi2503
"Sooo interessant ist der lokale Tratsch dieser doch etwas abgelegenen Ortschaft für einen Außenstehenden auch wieder nicht."
Und das vor allem, wenn man bedenkt, dass du davon überzeugt bist, dass es Berlin gar nicht gibt.
Das kommt natürlich erschwerend hinzu.
Ciao
Wolfram
@Wolfram Heinrich
"Sooo interessant ist der lokale Tratsch dieser doch etwas abgelegenen Ortschaft für einen Außenstehenden auch wieder nicht."
Natürlich, sie haben vollkommen recht. Es könnte ja auch versehentlich zu einem erweiterten eigenen Horizont kommen. Wer will das schon.
Schönes Wochenende,
Miriam
@Miriam Müller
"Sooo interessant ist der lokale Tratsch dieser doch etwas abgelegenen Ortschaft für einen Außenstehenden auch wieder nicht."
Natürlich, sie haben vollkommen recht. Es könnte ja auch versehentlich zu einem erweiterten eigenen Horizont kommen. Wer will das schon.
Ah, ich lechze seit Jahrzehnten nach einer Erweiterung meines Horizonts. Aber: Berlin ist ziemlich abgelegen, es ist ein Ortschaft am Rande von Deutschland. Aldersbach, wo ich derzeit wohne, ist ebenfalls am Rande von Deutschland gelegen, nach Österreich sind es nur wenig mehr als 30 km, in die Tschechei sind es weniger als 100 km.
Sollte mir eines Tages - von wem auch immer - hinterbracht werden, daß man sich in Berlin für die lokalen Ereignisse in Aldersbach im speziellen und Niederbayern im allgemeinen interessiert, dann werde auch ich mich für die lokalen Besonderheiten von Berlin interessieren. Bis dahin gehen mir der Prenzlauer Berg, Friedrichshain oder Kreuzberg ziemlich weit am Ars vorbei. Sie können mich vielleicht verstehen, denn auch Sie interessieren sich nur wenig für die lokalen Vorkommnisse in Aldersbach. Richtig?
Ciao und auch Ihnen ein schönes Wochenende
Wolfram
Gibt es das noch: einen Menschen, der aus der Provinz ausgerechnet in den P-Berg flieht?
Ich erinnere mich an eine Szene in "Casablanca".
RENAULT: And what in heaven's name brought you to Casablanca?
RICK: My health. I came to Casablanca for the waters.
RENAULT: Waters? What waters? We're in the desert.
RICK: I was misinformed.
Auch hier offensichtlich ein klarer Fall von Fehlinformation.
Das deutsche Feuilleton ist für mich eine nie versiegende Quelle der Faszination. Viele Autoren schreiben nicht deutsch, sondern feuilletonisch. Sie schreiben nicht fürs breite Publikum, sondern für drei bis vier Kollegen, die das Feuilletonische ebenfalls beherrschen. Es geht in ihren Texten nicht um die Bücher, Theaterstücke oder Filme, um die es gehen sollte, sondern vor allem um den Feuilletonisten selbst, um seine Großartigkeit, Kultiviertheit, Belesenheit. Dass es auch anders geht, sieht man, wenn man Kritiken in englischen oder amerikanischen Zeitungen liest.
So sehr ich mich für Fremdsprachen interessiere: Ich hatte nie den Ehrgeiz, Feuilletonisch zu lernen.
@W. M. Steiner
Das deutsche Feuilleton ist für mich eine nie versiegende Quelle der Faszination. Viele Autoren schreiben nicht deutsch, sondern feuilletonisch. Sie schreiben nicht fürs breite Publikum, sondern für drei bis vier Kollegen, die das Feuilletonische ebenfalls beherrschen. Es geht in ihren Texten nicht um die Bücher, Theaterstücke oder Filme, um die es gehen sollte, sondern vor allem um den Feuilletonisten selbst, um seine Großartigkeit, Kultiviertheit, Belesenheit.
Anschließe mich vollinhaltlich.
Für Anfänger auf dem Gebiet des Kulturbluffs hier eine kurze Einführung, wertvolle Tips.
derfranzehatgsagt.blogspot.de/2009/11/aus-dem-handbuch-fur-intellektuelle.html
Ciao
Wolfram
@ MMalachowski
Eine schön geschriebene Buchkritik – atmosphärisch dicht! Ich ahne in welches Großdorf sich die Protagonistin verirrt hat.
Ein Wehrmutstropfen? Ja, Handke habe ich gelesen – fast alles; von António Lobo Antunes leider nur Das Handbuch der Inquisition, zugegebenermaßen ein großartiges Buch, von dem es heißt, der Autor mache ein Landgut zum Welttheater. Beim silbenreichen Meer der Sprache von Nanni Ballestrini muss ich passen. Ich kenne die Autorin noch nicht, wat nun?
Mal ehrlich, Herr Malachowski! Sie schreiben gut. Dieses Getue à la Ijoma Mangold dürfen Sie sich getrost verkneifen. Sie kommen doch alleine voran. Schauen Sie sich einfach mal die Kritiken von Katherina Schmitz an, wenn Sie ein Vorbild suchen: klar, inspiriert, mit Herz, kurzum Leser orientiert und alles andere als ungebildet!
Ansonsten – weiter, weiter!!
@anne mohnen
Ich ahne in welches Großdorf sich die Protagonistin verirrt hat.
Geschichten, die von vorneherein in Berlin spielen oder in denen sich der Held, die Heldin nach Berlin verirren, können nur tragisch enden.
Ick bin jetz in Berlin,
Ick gloob, ick bin bald hin.
Ein Wehrmutstropfen?
Ohne hu, ohne ha,
Stünd der Wermut besser da.
Beim silbenreichen Meer der Sprache von Nanni Ballestrini muss ich passen. Ich kenne die Autorin noch nicht, wat nun?
Der Italiener als solcher ist hinterfotzig. Der heißt Nanni oder Andrea und ist trotzdem ein Mann. Nein, seriös ist der Italiener nicht.
Dieses Getue à la Ijoma Mangold dürfen Sie sich getrost verkneifen.
Who the fuck is Mangold?
Ansonsten – weiter, weiter!!
Columbus, sind Sie's?
Ciao
Wolfram
@ Wolfram Heinrich,
Dieses Getue à la Ijoma Mangold dürfen Sie sich getrost verkneifen.
Who the fuck is Mangold?
Ansonsten – weiter, weiter!!
Columbus, sind Sie's?
hey, nicht nur Columbus liest die Zeit!!
Da findest Du auch Ijoma Mangold!
Salut!
@anne mohnen
hey, nicht nur Columbus liest die Zeit!!
Da findest Du auch Ijoma Mangold!
Kommt dieses "weiter, weiter" in der ZEIT vor? Ich habe mir die ZEIT schon vor über 30 Jahren abgewöhnt.
Ciao
Wolfram