Das Schöne an Tocotronic ist zugleich das Schreckliche an Tocotronic. Diese Gruppe hat einen Anspruch an sich selbst und an ihr Publikum, und diesem Anspruch bleibt sie seit über 20 Jahren treu. Das ist schön, weil auf hohem Niveau verlässlich. Und es ist schrecklich, weil jedes neue Album als Referenzgewitter zu einer Exegese herausfordert, wie sie normalerweise eher in akademischen Seminaren gepflegt wird. Wer unter Ausblendung der Texte einfach nur die Musik hören möchte, handelt unterkomplex und wird dem Album nicht gerecht.
Ideal wäre es, könnte man beim Mitwippen ein mitgeliefertes Reclam-Heftchen mit den kommentierten Lyrics studieren. In den Fußnoten tauchten dann Theoretiker wie Roland Barthes oder Pierre Bourdieu auf, der Genuss wä
ss wäre ganzheitlich – aber getrübt. Ist, was eher durch den Kopf als durch den Bauch geht, überhaupt noch Rockmusik?Dabei ist es genau diese Aporie, die Tocotronic erst zu einem Phänomen machen. Aporien muss man entweder aushalten oder aufheben, indem man sie transzendiert. Und es erstaunt, wie leichtfüßig Tocotronic mit ihrem aktuellen „roten Album“ genau das gelungen ist. Musikalisch ging es der Gruppe zuletzt vor allem um eine Erweiterung des Sounds. Hochmelodiös und präzise war die Rhythmusgruppe um Jan Müller am Bass und Arne Zank am Schlagzeug schon immer. Unter der Regie von Produzent Moses Schneider wurde es von Platte zu Platte wärmer und weicher, die von Thomas Meadowcroft arrangierten Streicher fügten dem Klangbild eine dezent luxuriöse Note hinzu. Die Ecken und Kanten der frühen Tocotronic sind längst unter einer wohligen Teppichhaftigkeit verschwunden, die zuletzt durchaus mal breitärschige und bräsige Formen annahm.Schlimmstenfalls klangen Tocotronic wie ein adipöser Neil Young. Und gut, dass man dann als Kritiker ausweichend auf Susan Sontag, Antonio Negri, Gilles Deleuze oder Joris-Karl Huysmans verweisen konnte. Auch das „rote Album“ kann fröhlich seziert und dekodiert werden, verborgene Bezüge gibt es genug. Erstmals aber präsentiert sich die Gruppe musikalisch wie nach einer Ayurveda-Kur auf Bali – schlank, entschlackt und aufgeräumt. War der perfekte Popsong etwas, das Tocotronic früher eher versehentlich unterlief (Let there be Rock), ist er hier die Regel. Songs wie Rebel Boy, Prolog oder Zucker gehen auch ohne kognitive Umwege sofort ins Blut.Mit Konjunktiv IIDie elektrischen Gitarren treten zur Seite, um hedonistischen Keyboardflächen die Bühne zu überlassen. Beigesteuert hat sie der junge Markus Ganter, der als zweiter Produzent für Klarheit bürgt. Das Album klingt luftig, leicht und federnd selbst dort, wo es in seinem Mäandern noch am ehesten an den früheren Stil erinnert (Jungfernfahrt). Daneben ist genug Raum für akustische Folk-Miniaturen (Solidarität) oder neckische Ausfallschritte in eine bukolische Psychedelik (Diese Nacht) mit zwitschernden Vögeln und plätschernden Bächen.Generell aber strecken sich Tocotronic erfolgreich nach einer makellosen Schönheit, wie man sie vielleicht von Prefab Sprout kennt. Das eigentliche Wagnis dieser Platte besteht in ihrem Thema. Es geht um „die Liebe“, das tut es im Pop eigentlich immer. Nun wäre es für alte Diskursrocker wie Tocotronic sicher leicht, ein Konzeptalbum über die Flüchtlingspolitik oder den Mindestlohn zu schreiben. Aber die Liebe? Hier Worte zu finden, die noch nicht gesungen und Metaphern, die noch nicht zu Tode geritten sind – das ist eine Herausforderung.Dirk von Lowtzow meistert sie, indem er jede Gefühligkeit vermeidet und tatsächlich versucht, die Früchte seiner soziophilosophischen Lektüren in etwas so Banales wie Poptexte zu übersetzen. Zu diesem Zweck schlägt der Bohemien mit linksradikalen Wurzeln den eleganten Haken, die Liebe zum „Politischsten überhaupt“ zu erklären, zum letzten Refugium eines wirklich autonomen Subjekts. Entsprechend subjektiv und damit originell geraten auch die Zeilen, die er für ihre verschiedenen Aggregatzustände findet – vom naiven „knutschen, bis wir müde sind“ der Teenager in Die Erwachsenen bis zum wankenden Männlichkeitsmodell, das begutachtet wird: „Du bist aus Zucker, du bist zart, du schmilzt dahin, du wirst nicht hart.“Nun wäre das alles nichts und die künstlerische Verbindung von Kopf und Bauch ein Ding der Unmöglichkeit, wäre da nicht diese Stimme. Der Gesang und der Gesang allein ist die entscheidende und tragende Brücke, die beide Welten miteinander verbindet, und nie lag dieses Betriebsgeheimnis so deutlich zutage wie auf dem „roten Album“. Es ist das Operettenhafte und Kapriziöse in seiner Stimme, das Dirk von Lowtzow auch einen Aufsatz von Slavoj Žižek singen und in einen lyrischen Genuss verwandeln lassen könnte. Ihre warme Autorität und tastende Ironie erlaubt ihm sogar, kandidelte Sentenzen wie „du schriebest die Diplomarbeit“ zu singen.Es ist nicht erinnerlich, wann man zuletzt – oder jemals – im deutschen Pop etwas so Unwahrscheinliches wie den Konjunktiv II gehört hätte. Aber nur hier, wo das Schöne und das Schreckliche, das Lächerliche und das Erhabene zusammenfließen, entsteht Neues. Let there be Pop.Placeholder infobox-1