Letzte Generation: Die friedlichen Kriminellen

Meinung Der Letzten Generation wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Unsinn, findet unser Autor, Jurist an der Universität Würzburg. Er warnt vor politischem Missbrauch der Justiz und einem Schlag gegen die gesamte Klimabewegung
Hausdurchsuchung bei Mitgliedern der Letzten Generation in Berlin
Hausdurchsuchung bei Mitgliedern der Letzten Generation in Berlin

Foto: Christoph Söder/picture alliance/dpa

Unter lautstarkem Medienecho fand Ende Mai eine „Großrazzia“ in sieben Bundesländern gegen die Letzte Generation statt. Unter dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung durchsuchte die Polizei Wohnungen und beschlagnahmte Gelder und Webseiten. Das ist das vorläufige Ende einer Radikalisierungsspirale, die Politik und Sicherheitsbehörden im Zuge der friedlichen Protestaktionen der Letzten Generation durchlaufen hatten.

Was eine kriminelle Vereinigung ist – und was nicht

Zunächst die trockenen Fakten. Eine kriminelle Vereinigung im Sinne des Strafgesetzbuches setzt voraus, dass eine Vereinigung mit dem Zweck gegründet wird oder ihre Tätigkeit darin besteht, Straftaten zu begehen. Von diesem weit gefassten Tatbestand gibt es Ausnahmen, etwa, wenn die Begehung von Straftaten nur ein untergeordneter Zweck ist.Der unbedarfte Leser mag nach dem Überfliegen des Tatbestands wenig erkennen, was gegen einen Anfangsverdacht spricht, auch die Ausnahme kann erst angenommen werden, wenn die Strukturen erforscht wurden. Dafür wiederum braucht es Ermittlungen – und die gibt es in einem Rechtsstaat nur, wenn der Anfangsverdacht einer Straftat besteht.

Zusammengefasst könnte man bei der aktuellen Berichterstattung meinen; die Letzte Generation hat sich zusammengeschlossen, um Blockadeaktionen auf Straßen durchzuführen, die den Tatbestand der Nötigung erfüllen. Damit wird das Vorgehen des Staates gegen die Aktivisten wohl seine Richtigkeit haben.

Sinn und Unsinn der Straßenblockade

Damit macht man es sich entschieden zu einfach. Die Begehung von Straftaten muss das verbindlich festgelegte Ziel der Vereinigung sein, zu dessen Erreichung die Mitglieder verpflichtet sind. Einem Urteil des Bundesgerichtshofs zufolge reicht es nicht, wenn sie sich bewusst sind, dass es bei der Verfolgung ihrer Pläne zu Straftaten kommen kann, sie diese also lediglich „ins Auge gefasst“ haben.

Welchen Zweck verfolgen die Aktivisten denn nun? Dass sie sich nicht um des Blockierens willen auf die Straße kleben, liegt auf der Hand. Die Aktionen sind erst einmal Demonstrationen, im juristischen Sinne also Versammlungen und damit grundrechtlich geschützt. Die kommunizierten Forderungen stehen in direktem Zusammenhang mit der Blockade, namentlich ein generelles Tempolimit und weitere Maßnahmen der Verkehrswende. Das soll der Reduktion von Treibhausgasen dienen, die den Klimawandel antreiben und damit auch dem verfassungsrechtlichen Staatsziel des Umweltschutzes entgegenstehen. Zweck dieser Gruppe ist also, Demonstrationen zu veranstalten. Dass diese im Einzelfall auch Nötigungen darstellen können, mag den Mitgliedern zwar klar sein. Das reicht allerdings dem Bundesgerichtshof zufolge eben nicht aus, um eine kriminelle Vereinigung darzustellen.

Fachleute bezeichnen die Versammlungsfreiheit auch als Kommunikationsgrundrecht. Der Einzelne, so die Idee, soll ohne Furcht vor Sanktionen die eigene Meinung gebündelt durch eine Gruppe vertreten können. Durch den kollektiven Nachdruck soll er im demokratischen Meinungskampf Gehör finden. Hierbei stehen weniger die Meinungen im Fokus, die von einer Mehrheit ohnehin mitgetragen werden, denn wer sie vertritt, muss keine Repressionen fürchten. Vielmehr geht es um den Schutz der Minderheiten, der regierungskritischen Auffassungen, so schwer sie auch manchmal auszuhalten sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat Blockadeaktionen als zulässige Demonstrationsform und von der Versammlungsfreiheit geschütztes Verhalten bestätigt. Und zwar selbst dann, wenn die Blockade beabsichtigt und nicht nur Nebenfolge ist. Es steht dem Staat nicht zu, von diesem geschützten Verhalten durch Repressionen abzuschrecken, indem er sie als Zweck zur Begehung von Straftaten wertet. Die Wahrnehmung eines Grundrechts kann nicht gleichzeitig einen Straftatbestand verwirklichen. Nach wie vor zeigt sich, dass das Strafrecht als Antwort auf zivilen Ungehorsam völlig ungeeignet ist.

Bayerische Verhältnisse

Die Entscheidung der bayerischen Generalstaatsanwaltschaft, einen Anfangsverdacht zur Bildung einer kriminellen Vereinigung anzunehmen, ist juristisch also nicht nachvollziehbar und wirkt mit Blick auf die bayerischen Landtagswahlen eher politisch motiviert. Umso schockierender ist, dass ein bayerisches Amtsgericht diese Instrumentalisierung der Strafverfolgung absegnet.

Dass Entscheidungen der deutschen Staatsanwaltschaften die Unabhängigkeit vermissen lassen, derer sie sich selbst immerzu rühmen, ist längst kein Schreckgespenst mehr. Pimmelgate ist keine zwei Jahre her, auch die rechtswidrige Durchsuchung des Bundesfinanzministeriums ist unvergessen. Selbst der EuGH hat die Unabhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaften durch das Weisungsrecht der Justizminister*innen längst verneint. Dahingehend ist auch die Aufforderung Badenbergs an die Staatsanwaltschaft Berlin zu verstehen, erneut zu prüfen, ob ein Anfangsverdacht besteht, obwohl es diese Prüfung bereits umfassend gab. Der Verdacht liegt nahe, dass es auch in Bayern eine solche Aufforderung gegeben haben könnte.

Von Letzte Generation bis Fridays for Future: Gemeint sind sie alle

Die Mitglieder der letzten Generation sind nicht die einzigen Leidtragenden des aktuellen Vorgehens. Auch Fridays For Future, Extinction Rebellion und alle zukünftigen Klimabewegungen müssen sich die Frage stellen, wie weit sie eigentlich gehen dürfen. Dieser Silencing-Effekt ist es, dem die grundrechtlichen Garantien eigentlich entgegenwirken sollen.

Wenn die bayerische Generalstaatsanwaltschaft und das Bayerische Landeskriminalamt (LKA) nun auf der Webseite der Letzten Generation bereits die Unschuldsvermutung außer Kraft setzen und auch jede*n Unterstützer*in kriminalisieren, zeigt sich, dass wesentliche Grundwerte unserer Gemeinschaft gerade aufgrund politischer Opportunität geschliffen werden. Diese Aussagen wurden zwar nach einiger Zeit wieder zurückgenommen, man darf sich davon jedoch nicht täuschen lassen. In der Generalstaatsanwaltschaft München sind Topjuristen tätig und auch die Beamten des bayerischen LKA sind nach dem Prinzip der Bestenauslese ausgesucht worden. Eine solch gravierende Missachtung elementarer Grundsätze ist kein Fehler, der jedem mal passieren kann. Mindestens haben wir es mit vorauseilendem Gehorsam, im schlimmsten Fall mit politisch veranlassten und ohne Widerstand durchgeführten Repressionsmaßnahmen zu tun.

Wen der Rechtsstaat schützt

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) verteidigen die Maßnahmen mit Verweis auf den Rechtsstaat. Das ist ein Missbrauch desRechtsstaatsbegriffs. Das Verfassungsprinzip dient nicht zur Durchsetzung von Recht und Ordnung gegen das Individuum, sondern dazu, den Einzelnen vor Übergriffen durch den Staat zu schützen. Der Rechtsstaat begrenzt das staatliche Gewaltmonopol, er setzt es nicht durch – das schafft jenes schon ganz alleine. Wenn nun Mitglieder einer Gruppe, die sich mittels friedlichen Protests zur Forcierung des Klimaschutzauftrags zusammengeschlossen haben, morgens von bewaffneten Polizisten aus den Betten gezogen werden, hat das nichts mit Rechtsstaatlichkeit und viel mit Unverhältnismäßigkeit zu tun. Dass sich selbst die UN zu Kritik am Vorgehen Deutschlands gegen die letzte Generation veranlasst sieht, verdeutlicht die Absurdität des ganzen noch einmal.

Umstürzler? Im Gegenteil

Auch aus einer demokratischen Perspektive ist das Vorgehen bedrohlich. Die Letzte Generation wird seit Monaten besonders aus dem Politikbetrieb angefeindet, ihr wird vorgeworfen, unser politisches System umgehen und selbstermächtigend Änderungen erzwingen zu wollen. Dabei wird die Gruppe nicht müde, die Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger zu betonen. Ihre Aktionen sind immer mit Aufforderungen an die Politik verbunden, endlich effektiv gegen den Klimawandel vorzugehen. Die Forderung zur Einführung eines Tempolimits im Rahmen der Blockadeaktion unterscheidet sich in der Wahl der Mittel durch nichts von den Protesten der Bauernverbände, die mit ihren Sternfahrten ganz Berlin lahmlegten, um eine Subvention des Milchpreises zu erwirken. Diesen jedoch warf damals niemand vor, die politischen Institutionen erpressen zu wollen, es kam sogar zu Auftritten der Bundesagrar- und Bundesumweltministerinnen. Die Gesprächsangebote der Letzten Generation wurden dagegen weitestgehend ignoriert. Erst Anfang Mai kam es zu einem ersten Gespräch mit Volker Wissing (FDP), weitere Gespräche hat er aber bereits am Folgetag ausgeschlossen.

Demokratie findet nicht nur in den Parlamenten statt

Wer die Letzte Generation auf Parteien und Parlamente verweist, der sei daran erinnert: Die politische Willensbildung des Volkes beginnt und endet nicht im Parlament. Damit es die geben kann, braucht es Austausch, und zwar nicht nur von Parteimitgliedern, sondern der gesamten Gesellschaft. Hierfür ist der öffentliche Raum gedacht, und der ist niemals konfrontationslos. Hier wird gestritten, hier wird diskutiert, hier finden Demonstrationen statt, die anderen auch auf die Nerven gehen können. Die Öffentlichkeit ist für alle da, das macht sie gerade zur Sphäre der freiheitlichen Demokratie. Gruppen davon auszuschließen, weil uns die gewählte Form, der Inhalt oder die dahinterstehende politische Ideologie nicht gefällt, steht immer im Konflikt mit der demokratischen Gemeinschaftsordnung. Dieser Konflikt kann und muss im Falle menschenverachtender Positionen wie Nationalsozialismus und Faschismus zu Lasten der Demokratie gelöst werden, doch das stellt eine eng umgrenzte Ausnahme dar.

Die Mitglieder der Letzten Generation, die sich mittels friedlichen Protests zur Erhaltung der natürlichen Lebensvoraussetzungen einsetzen, sind nicht Teil dieser Ausnahme. Sie und ihr Anliegen brauchen den Schutz der Gemeinschaft, auch wenn der Weg zur Arbeit vielleicht einmal länger dauert.

Robin Mayer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie der Universität Würzburg

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden