Die tägliche Arbeit am Band von VW, die eines Programmierers in einem IT-Unternehmen oder der Alltag hinter der Theke einer Bäckerei – das können sich Schriftsteller offenkundig nur schwer als Romanstoff vorstellen. Dass sich aus der vermeintlich langweiligen Welt der Lohnarbeit durchaus – und zwar hervorragende – Werke stricken lassen, hat zuletzt der Niederländer J.J. Voskuil mit seinem siebenbändigen Werk Das Büro gezeigt, in dem er den Arbeitsalltag in einem Volkskunde-Institut schildert.
Die Arbeitswelt hat der Soziologe Oskar Negt einmal eine „unterschlagene Wirklichkeit“ genannt. In der Corona-Krise hat zumindest die mediale Öffentlichkeit ein Licht auf die „systemrelevanten“, aber meist schlecht bezahlten Berufe wie Kassiererin und Krankenpflegerin geworfen. Ob Schriftsteller dies auch tun werden, ist angesichts der derzeit verfassten Corona-Tagebücher eher fraglich.
Nun wird als erster – wenngleich unfreiwilliger – Corona-Roman das gerade erschienene Buch Arbeit des in Berlin lebenden Autors Thorsten Nagelschmidt bezeichnet. Das ist etwas übertrieben, weil es entstand, als Corona – wenn überhaupt – als Bier bekannt war; aber auch nicht aus der Luft gegriffen, weil der Autor tiefe Einblicke in wichtige, aber unbeachtete Berufe gewährt. Alle der fast ein Dutzend Protagonisten lernt der Leser bei der Arbeit kennen. Es kommen vor: ein Taxifahrer, zwei Drogendealer, eine Fahrradkurierin, zwei Notfallsanitäter, eine Späti-Betreiberin, zwei Polizisten, ein Hostel-Nachtwächter, eine Pfandsammlerin, ein Türsteher und eine Straßenreinigerin. Es sind jene, die den Touristen und Party People das Bier im Späti für den Fußweg zum nächsten Club verkaufen, sie mit dem Taxi ins Hostel bringen, sie dort einchecken und morgens den Partymüll auf der Straße zusammenkehren.
Nagelschmidts Protagonisten arbeiten in Berlin, überwiegend in Kreuzberg. Die erzählte Zeit des Romans umfasst nur die zwölf Stunden einer Nacht Ende März, in der die Nacht genauso lang ist wie der Tag.
Eine der Hauptfiguren ist der musikbegeisterte Taxifahrer Heinz-Georg Bederitzky aus Hohenschönhausen, der seinen Fahrgästen Demoaufnahmen seiner Krautrock-Kompositionen vorspielt. Ihm hat das Leben schon vor Jahren ein Bein gestellt. Einmal verschuldet, kommt er aus dem Schuldensumpf nicht wieder heraus („Diese Schulden. Diese Schuldgefühle ewig, er hat’s so satt.“) Ein paar Jahre lebte er von der Stütze, die Armutserfahrung prägte ihn. In jener Nacht muss er 150 Euro einnehmen, um einem Kollegen eine Rate zurückzahlen zu können. Eine Überlandfahrt nach Halle kommt ihm da wie gerufen. Doch der Kunde prellt die Zeche, Bederitzky steht mit leeren Händen da – und hat auch noch seine Freundin, die Späti-Betreiberin Anna, im Stich gelassen, als diese nach einem Überfall auf ihren Späti um Hilfe bat.
Undercover als Nachtwächter
Während Bederitzky in mehreren kürzeren Kapiteln die Hauptperson ist, werden die anderen Protagonisten in je einem, längeren Abschnitt vorgestellt. Nagelschmidt lässt seine Hauptfiguren jedoch in späteren Kapiteln als Randfiguren vorkommen. So etwa Anna, die ehemalige Grafikerin einer Agentur, die es satt hatte, ihr grafisches Talent damit zu verschwenden, Menschen Mist anzudrehen, und in ihrem Späti durch eine ausgefallene Zeitschriften-Auswahl Akzente setzt. Sie wird von Osman an ihrem Arbeitsort überfallen. Den Jugendlichen mit Migrationshintergrund lernen wir ausführlich in einem anderen Kapitel kennen. Es ist das einzige, in dem Nagelschmidt von seinem Konzept abweicht. Denn Osman, der begeisterte Straßenfußballer und Taschendieb, wird nicht bei der Arbeit, sondern beim Grand-Theft-Auto-Zocken in der Wohnung eines Bekannten geschildert. Nach einem Vorfall – was genau, bleibt offen – irrt Osman leicht verletzt durch die Straßen Kreuzbergs. Osman beschließt, dass er heute dabei sein will, genauso gut drauf sein will wie die Studenten und Touristen, die er am „Abziehfreitag“ normalerweise beklaut. „Er will dieselbe Musik hören, dasselbe Bier trinken und dieselben Frauen anglotzen.“ Das klappt natürlich nicht.
Es ist beeindruckend, wie es Nagelschmidt gelingt, jeder Hauptfigur durch sprachliche und stilistische Mittel ihren eigenen Sound zu geben. Hinzu kommt ein Detailreichtum, der die jeweiligen Mikrowelten der Arbeit atmosphärisch dicht und authentisch erscheinen lässt. Man merkt dem Text an, dass ihr Autor wie ein Soziologe, wie ein teilnehmender Beobachter vorgegangen ist. Nagelschmidt hat Interviews mit Dutzenden von Leuten geführt, mit Polizisten, Notfallsanitätern und Beschäftigten der Berliner Straßenreinigung, wie er auf der Online-Buchpremiere im Festsaal Kreuzberg erläuterte. Vorabfassungen hat er den Gesprächspartnern im Hinblick auf Stimmigkeit der Details lesen lassen. Nagelschmidt hat sich als Türsteher versucht und gar vier Wochen undercover als Nachtwächter in einem Hostel gearbeitet. Zum Schriftsteller wird man aber nur, wenn man diese soziologischen Beobachtungen zu einem literarischen Text verdichten kann. Thorsten Nagelschmidt ist dies ohne Zweifel gelungen; Arbeit ist ein großartiger Roman – wenn er auch nicht die ganz normale Lohnarbeit zum Gegenstand hat, sondern die des „Arm, aber sexy“-Nachtlebens von Berlin.
Info
Arbeit Thorsten Nagelschmidt Fischer Verlag 2020, 336 S., 22 €
Kommentare 2
Die »Arm-aber-sexy«-Nachtarbeit des Berliner Nachtlebens unterscheidet sich von »normaler« Lohnarbeit allenfalls durch die prekären Details der Berliner/Kreuzberger Szenerie. Was umgekehrt heißt: Die Fachfrau an der REWE-Theke in S., der Paketzusteller in F., die Halbzeit-Sexworkerin in einem Apartment im Einzugsbereich der Stadt G., der verschuldete Steuerberater mit pflegebedürftiger Mutter und wertlosem Häuschen an der Hacke, die Aushilfskraft in einem Callcenter in C. und der bei einem Großreinigangs-Service in Leiharbeit Beschäftigte in M. warten mit vergleichbaren Erfahrungen auf – geplatzte Kredite, gerade getrennt, Kind wird in der Schule gemobbt, Kündigungswelle-Gerüchte im Betrieb, und so weiter. Schriftstellerisch zu entdecken wäre somit ein komplettes Universum – um es in der Marktsprache zu formulieren: unverbraucht, neu, anschaulich und im Trend liegend.
Also, Schriftsteller(innen) – nichts wie ran! Das »Real Life« ist mit Sicherheit interessanter als eure mit Second-Hand-Erfahrungen und abstrakten Theorieüberlegungen angereicherten Blogs. Zu Nagelschmidt will ich, da ich das Buch nicht gelesen habe, keine großartigen Wertungen abgeben. Stilistisch ist der Roman – so viel kann man nach der amazon-Leseprobe sagen – anschaulich und soziologisch gut »verbackgroundet«; auch das Biotop Kreuzberg ist recht anschaulich beschrieben.
Von daher: interessanter Tipp.
Die Rezension von Guido Speckmann ist - dankenswerterweise - sehr anschaulich. Das erspart mir den Kauf des Buches.
Ich war niemals Berlin-Fan, habe geliebte Menschen an Berlin verloren, was mir die Annäherung nicht gerade erleichtert hat. Mir ist Berlin zu groß, zu schrill, zu großmäulig. Der Fall der Mauer hat dieses Bild nicht wirklich korrigieren können. Im Gegenteil.
Wenn ein Buch den Titel "Arbeit" trägt, erwarte ich auch Mitteilungen aus dieser Richtung. Mein Eindruck: es handelt sich primär um ein Buch von und über Berlin - und nur am Rande über Arbeit. Selbst wenn die Personen plastisch geschildert sein mögen.
Für Berliner-Blasen-Bewohner und/ oder Berlin-Fans mag das Buch prickelnd, vielleicht sogar offenbarend sein. Für mich als Flachland-Tiroler aus der geographischen Mitte der Republik hingegen vernachlässigbar.
Und das, obwohl ich Menschen - zuweilen - liebe. Ganz besonders die Helden des Alltags. In der Pampa sind dies nunmal andere als in Berlin. Und als großer Freund eines gewissen Wiedererkennungswertes brauche ich da etwas Anderes als nur zeitgemäße Eindrücke von Kreuzberger Nächten - und Tagen.
Fazit: nix für mich. I would prefer not to ...