Freitag: Frau Lindner, wann haben Sie zum ersten Mal gespürt, im falschen Körper zu sein?
Lindner: 1987. Mehrere Tage lang habe ich als Frau während des Karnevals gelebt. Nicht nur während der Party, sondern auch davor und danach zu Hause. Das war sehr schön.
Wie hat das Umfeld reagiert?
Für die meisten war es eine gelungene Verkleidung. Meine Frau und ich haben eher unbeholfen reagiert, da wir nicht wussten, was das bedeutete. Wir hatten keinen Namen dafür.
Wann haben Sie zuerst von Transsexualität gehört?
Nach der Wende, nachdem solche Informationen zugänglich wurden. Die Erkenntnis, dass ich transident bin, hatte ich 1994.
Wann haben Sie sich mit dieser Erkenntnis an die Öffentlichkeit gewagt?
Anfangs war es für mich unvorstellbar, mich in der Öffentlichkeit zu outen. Ich war Politikerin, ich hatte eine Firma, viele kannten mich. Ich habe mich mit Arbeit betäubt. Die Konsequenz dessen, was man da für sich erkannt hat, ist so ungeheuerlich, dass man das nicht wahrhaben will.
Sie haben in den folgenden Jahren erstmal gegen die innere Stimme Männlichkeit behauptet?
Genau. Ich bin doch ein Mann, habe zwei Kinder gezeugt, bin Unternehmer... Irgendwann funktioniert das nicht mehr. Da blieb nur die Änderung der körperlichen Hülle übrig. Ganz allmählich habe ich damit angefangen. Nun kann man das nicht nur im Zimmer machen. Das ist automatisch immer öffentlich. Es ging solange gut, wie diese Änderungen in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen stattfanden.
Was heißt das?
Es gibt eine große Toleranz in einem gewissen Rahmen. Man lässt die Haare wachsen, trägt Ohrringe...
Röcke?
Röcke noch nicht, erstmal Hosen und Blusen. Aber irgendwann ließ sich nicht mehr verbergen, dass unter den Blusen hormonbedingt Brüste wuchsen. Hormone nehme ich seit 1998. Da war ich schon lange Zeit in psychotherapeutischer Behandlung. Erst als ich sagte, »Ich will Frau werden!«, hat die Umwelt das nicht mehr toleriert. Einige haben verbreitet, welche Ungeheuerlichkeit in Quellendorf vor sich geht.
Nicht Sie haben die Medien geholt, wie es immer hieß?
Nein. Als die Medien, die ich nicht gerufen habe, da waren, habe ich allerdings meine Geschichte erzählt. Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht; wer mich fragt, dem antworte ich.
Haben Sie den Einfluss der Presse eher produktiv oder als zerstörerischen Vorgang wahrgenommen?
Ich fand es produktiv, auch wenn es viele anders sehen. Der Trubel hat zwar letztlich zu meiner Abwahl in Quellendorf geführt. Aber die Medienpräsenz hat mich gezwungen, über mich nachzudenken, mich selbst zu reflektieren. Jedes Gespräch führte zu der Auseinandersetzung: Ist es wirklich das, was du willst, was du da sagst? Willst du wirklich die Operation? Insofern hat es mir geholfen. Der Umzug in die Großstadt ist jedoch eine Niederlage als Frau. Solange man das nicht gleichberechtigt sowohl in Quellendorf als auch Berlin leben kann, hat diese Gesellschaft ein Defizit. Für mich persönlich war es die große Chance. Ich habe das genutzt, mich zu entwickeln.
Haben Sie noch Kontakt zu einigen Quellendorfern? Immerhin haben 235 Leute gegen Ihre Abwahl gestimmt?
Nein. Aber ich bin gespannt auf Begegnungen. Meine Lesereise führt mich auch nach Köthen und Dessau.
Momentan sind sie für die PDS Bezirksverordnete in Berlin-Kreuzberg. Welche Themen liegen Ihnen am Herzen?
Ich bin in den Ausschüssen Gesundheit, Soziales und Finanzen. Sozialpolitik ist Finanzpolitik; erst wenn man seine Vorschläge in den Etat einbringt, kann man sie durchsetzen. Meine Tätigkeit im Rechnungsprüfungsausschuss in Wolfen hat mir sehr geholfen, Haushaltsstrukturen zu verstehen. Ich kann die soziale Verantwortung, für die die PDS steht, haushaltstechnisch unterbringen. Minderheiten-, Sozial- und Behindertenpolitik ist auf Zuschüsse angewiesen. Da muss man automatisch in den Haushalt eingreifen, um politikfähig zu bleiben. Im Zuge der Berliner Bezirksreform kämpfen wir - gemeinsam mit den anderen Fraktionen - darum, die Vielfalt der alten Kreuzberger Struktur zu erhalten. Innerhalb der BVV haben wir uns als Fraktion Anerkennung erworben. Es gab kaum die übliche Abwehrhaltung, wie sie sonst in der Presse, etwa im Berliner Tagesspiegel, rüberkommt.
Wie ist die Zusammenarbeit mit den PDS-Kollegen aus Friedrichshain?
Teilweise sehr gut. Durch die zukünftige Zusammenlegung der Bezirke Friedrichshain und Kreuzberg hat die PDS Chancen, den Bürgermeister zu stellen. Das ist abhängig davon, wen die PDS nominiert.
Ist die ehemalige Bürgermeisterin von Quellendorf dazu bereit? Immerhin hat in Köln die transidente Maria Rohlinger sogar für den Oberbürgermeisterposten kandidiert.
Michaela Lindner steht definitiv nicht zur Verfügung. Ich will das für die Zukunft nicht ausschließen, aber momentan nehme ich Abstand von der Politik. Berufspolitiker sind grundsätzlich korrumpierbar in der jetzigen Gesellschaft, weil die Politik an Gestaltungsspielraum verliert. Mit diesem Verlust wird die Politik zunehmend abhängig von der Wirtschaft.
Ist die Abhängigkeit von der Presse und der öffentlichen Meinung nicht größer?
Nein, wenn ich heute etwas bewegen will, brauche ich Geld, denn die öffentliche Hand ist nicht in der Lage, dieses Geld bereitzustellen. Also muss ich andere Wege gehen. Das macht mich immer abhängig. Nicht zufällig haben wir gerade die großen Skandale. Aufgabe der Gesellschaft insgesamt ist es, der Politik diesen Gestaltungsspielraum wieder zurück zu geben.
War die Lage in Quellendorf grundsätzlich anders?
Es gab mit dem Aufbauprogramm Ost andere finanzielle Möglichkeiten. Die Strukturen in Quellendorf sind übersichtlicher. Hier in Berlin gründen wir Bezirke mit über 300.000 Einwohnern. Woanders sind das Städte. Gleichzeitig entmachtet dieses Land die Bezirkspolitiker. Permanent werden ihnen Kompetenzen entzogen und Steuerungsmöglichkeiten genommen. Die Auseinandersetzungen in Berlin werden nicht so sehr zwischen den Parteien, sondern zwischen den Ebenen Land und Bezirk ausgefochten.
Bundespolitisch engagieren Sie sich in der AG Lesben und Schwule. Zwei wesentliche Gesetzentwürfe sind derzeit in Arbeit - die eingetragene Partnerschaft und das Transsexuellengesetz. Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand?
Das Transsexuellengesetz ist seit 1989 überfällig. Damals wurden europäische Richtlinien gegen die Diskriminierung transidenter Menschen verabschiedet, worauf die nationale Gesetzgebung aufbauen sollte.
Die eingetragene Lebensgemeinschaft ist eine vertane Chance. Wir schaffen ein Extragesetz für Homosexuelle. Dabei wollen wir keine Extragesetze.
Aber auch Heterosexuelle können doch die Ehe light für sich in Anspruch nehmen?
Wenn es so wäre, wäre es ein vertretbarer Schritt. Aber momentan wird das in der Öffentlichkeit doch so wahrgenommen: Ehen für Hetero-, eingetragene Partnerschaften für Homo-Paare. Warten wir mal ab. Ich denke, dass die Institution Ehe eines generellen Neuansatzes bedarf. Das heißt Steuergerechtigkeit und Adoptionsgerechtigkeit, nicht die besondere Behandlung für homosexuelle Partnerschaften. Ich bin keine Befürworterin von Minderheitenrechten. Ich möchte kein extra Transsexuellengesetz. Wir werden es brauchen, weil immer noch Transsexuelle ihren Arbeitsplatz verlieren; weil die Gesellschaft nicht bereit ist, mit transidenten Menschen zu leben. Wir benötigen offensichtlich Gesetze für Behinderte, weil die Gesellschaft nicht bereit ist, mit Behinderten anders umzugehen. Man muss da reinschreiben, dass jeder 17. Arbeitsplatz behindertengerecht sein muss und die Türen 1,08 Meter breit. Meine Vorstellung ist, die Gesellschaft so fit zu machen, dass solche Gesetze überflüssig sind.
Wenn zwei Menschen zusammen leben wollen, dann sollen sie das tun. Und sie sollen ein Kind adoptieren können, unabhängig davon, ob sie nun Mann/Frau, Mann/Mann oder sonst was sind. Ich muss nur das Adoptionsgesetz öffnen - und nicht ein Gesetz über eingetragene Partnerschaft machen.
Warum steht bei dem heute diskutierten Gesetz das Modell Kleinfamilie so stark im Vordergrund? Das ist doch nicht mehr allgemein verbindlich?
Klar, das ist ein auslaufendes Modell. Ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf generationsbedingt ist. Heute sind viele an der Macht, die Gleichberechtigung in dem Sinne wahrnehmen: Wir erlauben Lesben und Schwulen genau das, was andere auch dürfen. Das ist aber nicht mein Ansatz. Eher stellt sich die Frage, wie wir die heutige Gesellschaft anders ausrichten können. Es ist viel spannender, ein neues gesellschaftliches Modell für Partnerschaft und Familie zu entwickeln, das für alle gültig ist.
Dieses Modell schließt sowohl althergebrachte als auch neue Formen ein?
Ja. Ich muss von der gesellschaftlichen Realität ausgehen. In der Großstadt ist jede zweite Ehe geschieden, es gibt viele alleinerziehende Mütter, Singlehaushalte, Schwulen- und Lesbenwohngemeinschaften. Von dieser Realität ausgehend frage ich, wie definiert sich Lebensweise. Aber diese Radikalität haben die 68er inzwischen leider verloren.
Schließt das Transsexuellengesetz auch Intersexualität ein?
Ich hoffe, dass Intersexualität damit geregelt wird.
Das heißt, dass es juristisch nicht nur Mann und Frau, sondern auch eine Bandbreite von Geschlechtern geben wird?
Für mich lehne ich ja die Schubladen Mann/Frau ab. In einer Schulklasse habe ich mal demonstriert, wie dumm diese Schubladendenken ist. Wenn ich die Mann-Schublade aufmache, dann sind da männerliebende und frauenliebende Männer drin. Darin wieder sehr männlich wirkende frauenliebende Männer und männerliebende weiblich wirkende Männer - da habe ich schon acht Schubladen. Es macht nur Stress, das immer wieder einzusortieren. Da muss ich mir nicht mal den Stress machen, nach Mann und Frau einzusortieren.
Nun haben Sie sich für die Schublade Frau entschieden?
Das ist eine persönliche Entscheidung. Das würde ich nie jemandem anderen aufzwingen. In der Transgenderbewegung haben wir die Kontroverse um die Auflösung der Geschlechter. Dem stimme ich ja zu. Ich stelle nur jedem Menschen frei, wie er leben will. Ich habe in völlig verschiedenen Welten gelebt. In dieser Männerwelt mit all dem Machogehabe. Jetzt lebe ich in der Frauenwelt und fühle mich sauwohl dabei. Ich bin eine transidente Frau. Meine Stimme möchte ich nicht ändern. Die finde ich total geil, weil alle sich umdrehen, wenn ich ein Telefonat in der U-Bahn führe.
Hat das Frausein Ihnen Vorteile gebracht?
Für mich ist es ein Vorteil, weil ich mit mir selbst im reinen bin. Kein Versteckspiel mehr, keine Heimlichkeiten, nicht auf Toiletten schminken oder mich dort umziehen.
Bereuen Sie heute als Frau Entscheidungen, die Sie früher getroffen haben?
Nein, ich denke, dass mein Frausein schon immer in mir drin war. Es war mir nicht immer bewusst, aber gegen diese innere Einstellung habe ich keine Entscheidungen getroffen. Ich muss nichts bereuen.
Würden Sie, wenn Sie die Möglichkeit hätten, etwas anders machen?
Mit meinem heutigen Wissen würde ich den bewussten Schritt zur äußeren Frau eher vollziehen.
Können Sie transidente Männer verstehen?
Ja, klar. Das ist übrigens gesellschaftlich anerkannter als umgekehrt. Viele Frauen, die bewusst männlich leben, werden gesellschaftlich hofiert. Sie sind die starken Frauen. Schwache Männer werden nicht anerkannt.
Haben Sie ein Vorbild?
Nelson Mandela.
Mandela?
Er kommt aus einer gesellschaftlichen Gruppe, die permanent unterdrückt wurde. Aber er hasst seine Gegner nicht. Trotz langer Haftzeit hat er nie aufgehört, ans Menschsein zu glauben. Aus dieser Kraft heraus hat er selbst seinen Peinigern verzeihen können. Das Problem der Menschen ist, dass sie sich klein fühlen. Es wäre nützlicher, wenn sich jeder Mensch als einzigartiges Individuum begreift und es lernt, zu 100% sich selbst zu leben. Ich hasse es, wenn man glaubt, sich wegen der Umstände entschuldigen zu müssen.
Das Gespräch führte Tom Mustroph
Michaela Lindner: Ich bin, wer ich bin. Ein öffentliches Leben als Mann und als Frau. Autobiographie. Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main, 304 S., 36 DM
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