Lias Begehren

Grenzen des Erzählens Norbert Scheuers Debütband »Flussabwärts«

Die Eifel ist eine vergleichsweise arme, ja verwaiste Region. Im Norden grenzt sie an Aachen und Köln, während die südlichen Gegenden, die Hocheifel und die Maare, nahtlos in den noch ärger gebeutelten Hunsrück mit kleinsten Köhlerdörfern übergehen. Beschwerlich sind die Existenzen hier für diejenigen, die in den näher oder entfernter gelegenen Klein- und Großstädten keine Arbeit gefunden haben; man schlägt sich irgendwie so durch, hält zwar den Lokalpatriotismus - wohl aus einem dumpfen Gefühl der Angstabwehr vor dem Urbanen - hoch, ohne dabei wirklich noch überzeugt zu sein vom Leben im Dorf und auf dem Land. Strukturell prägend sind oft genug die Kinder und Alten, dann die Verlierer.

Norbert Scheuer hat mit seinem überaus gelungenen kleinen Roman Flussabwärts eine Geschichte geschrieben, die das Landleben so (vor)schreibt - hier in Kall am Westrand der Eifel. Doch könnte es sich ebenso um entsprechende Käffer im Schwarz- oder bayerischen Wald handeln. Die Stadt ist einige zehn Kilometer weit entfernt, zugleich jedoch liegen für die meisten Dörfler Welten dazwischen. Da erinnert sich dann der Erzähler Leo an die Zeit seiner Kindheit und Jugend in den Sechzigern, an die wuselig-umtriebige Mutter, die sich um eine Kneipe bemüht, die nie wirklich ihre eigene gewesen ist, an den saufenden Vater, der die meiste Zeit auf Montage unterwegs ist, an seinen Fußballclub, die zarten Pflänzchen amouröser Begebenheiten einerseits und die handfesteren Dinge in der »Knatterbude« von Tamara, der Dorfhure, andererseits. Dazwischen schiebt sich dann noch eine weitere Geschichte mit tragischem Ausgang: nämlich die wechselvolle Beziehung von Lia, der Aushilfskellnerin aus Mutters Wirtschaft, und Hilbert, dem antriebsarmen Sohn aus begüterter Handwerkerfamilie. Die kürzeste Zeit ihres Lebens sind diese beiden ein Paar und miteinander verheiratet, nachdem zuvor Lias Flucht aus dem Dorf mit der zusätzlichen Bürde eines unehelichen Mädchens kläglich geendet ist. Aber Lias Begehren und Begierde verschafft sich Luft und Lust in häufig wechselnden Beziehungen, wohingegen Hilbert in Lia die Liebe und folglich Bestimmung seines Lebens sieht - und zwangsläufig daran zerbricht. Nachdem Lias Tochter auf ungeklärte Weise in der Kall ertrunken ist, verfolgt Hilbert seine frühere Frau, versucht sie umzubringen, ehe er sich selbst - völlig am Ende - das Leben nimmt.

Lang ist das alles schon her für Leo, den Erzähler, der irgendwann doch noch den Absprung geschafft hat und zum Studieren nach Aachen gelangt ist. Längst ist der Vater tot; zuletzt hat er im Krankenhaus in Köln gelegen. Ab und an besucht er seine Mutter im Altenwohnheim, wo sie ihre Zeit vor dem Fernseher verdöst. »Ich versuche, mit Mutter zu reden. Aber sie erzählt mir nie, was ich eigentlich wissen will. Manchmal bin ich ihr böse deswegen, aber dann denke ich, dass es besser so ist. Niemand kann wirklich alles erzählen.«

Letzte Sätze - Schluss aus - genial. Die ganze Poetologie dieses schmalen Bändchens steckt im allerletzten Satz. Welches Glück für die Leser, dass wir mit Norbert Scheuer einen exzellenten Erzähler vor uns haben, der mit Anteilnahme für seine Figuren und aus erfahrungsgesättigtem Wissen zwar auch nicht alles berichtet, aber doch immerhin Möglichkeiten erkundet, wie etwas gewesen sein könnte - etwas, von dem wir dunkel ahnen, dass sich darin ebenso Schicksalhaft-Archaisches wie Gesellschaftlich-Typisches abzeichnet. - Wie war das noch mit der Nähe und Verwandtschaft von Ratio und Mythos?!

Norbert Scheuer: Flussabwärts. Roman. Beck, München 2002, 150 S., 17,90 EUR

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