Liebe deinen Ort

Essay George Orwell findet den Nationalismus auch jenseits der Nationen
Ausgabe 06/2020
George Orwell um 1943 bei einer Radioaufzeichnung
George Orwell um 1943 bei einer Radioaufzeichnung

Foto: Imago Images/Leemage

Im Jahr 1945, sollte man meinen, muss jedem klar gewesen sein, was Nationalismus ist. Umso überraschender liest sich aus heutiger Sicht der Beginn von George Orwells Essay Notes on Nationalism, der 1945 in der britischen „Zeitschrift für Philosophie, Psychologie und Ästhetik“ Polemic erschien und nun erstmals ins Deutsche übersetzt wurde.

Mit Nationalismus, so George Orwell, meine er eine Sache, die „noch keinen Namen hat“. Dieser erstaunlichen Erklärung schließt sich eine teilweise noch erstaunlichere Liste von Phänomenen an, die Orwell unter dem Begriff des Nationalismus erfassen will: Sie reicht vom Kommunismus und dem politischen Katholizismus über den Antisemitismus und den Zionismus bis hin zum Pazifismus.

Pazifisten als Nationalisten? Was zunächst nach einem Oxymoron klingen mag, erschließt sich erst vor dem Hintergrund von Orwells erweiterter Definition des Nationalismus schnell: Der Begriff meint in diesem Essay nämlich nicht den Superioritätsanspruch einer Nation, sondern ganz allgemein jede „Geisteshaltung“, die die Welt in Gut und Böse einteilt, die sich mit einer politischen, kulturellen oder religiösen „Einheit“ identifiziert und die sich für moralisch überlegen hält. Nationalismus, so könnte man die Idee von George Orwells Essay reformulieren, ist der Überbegriff für eine bestimmte Form von Ideologie.

Diese Ideologie interessiert den Sozialisten Orwell gerade nicht als ein externes Phänomen, das bloß unter politischen Radikalen zu finden ist, sondern als Problematik, die die englischen Intellektuellen selbst betrifft. Der Essay ist aus dieser Perspektive eine Selbstkritik. Wie in seinem Erfolgsroman Animal Farm (1945) treibt Orwell auch in seinem Nationalismus-Text die Frage um, wie es geschieht, dass die Kämpfer gegen politische Unterdrückung am Ende selbst zu Gewalttätern werden.

Den britischen Intellektuellen, die mit dem Kommunismus sympathisieren und sich als Pazifisten begreifen, bescheinigt er in dieser Hinsicht einen Werterelativismus: Gewalt werde nur dann verurteilt, wenn sie der Verteidigung der westlichen Länder diene; die Gewalttaten Russlands oder Chinas hingegen werden nicht problematisiert oder sogar gerechtfertigt. Nur kurze Zeit vor dem Ausbruch des Kalten Krieges erkennt Orwell die Gefahr, dass die Welt in zwei Lager zerfällt, die jeweils nur ihre eigene Version der Wahrheit kennen und keine Bereitschaft zeigen, die Perspektive der gegnerischen Partei zu berücksichtigen.

Von dieser Gefahr kann sich niemand freisprechen: Die nationalistischen „Liebes- und Hassgefühle“ gehören „bei den meisten von uns zur Grundausstattung“ und es bedarf einer „moralischen Anstrengung“, sie zu „bekämpfen“. Das Antidot gegen den Nationalismus, das Orwell empfiehlt, mag auf den ersten Blick überraschen. Es lautet Patriotismus. Dabei versteht Orwell unter Patriotismus – einem älteren Begriffskonzept entsprechend – die Liebe zu einem Ort und das Engagement für ein Gemeinwohl, das frei von chauvinistischen Zügen ist.

George Orwells Essay über den Nationalismus trägt aus dieser Perspektive eine spezifische historische Signatur, besitzt aber, wie der Münchner Soziologe und Kursbuch-Herausgeber Armin Nassehi in seinem Nachwort betont, zugleich einen hohen Aktualitätswert. In Zeiten, in denen sich öffentliche Debatten „an solchen Dichotomien orientieren, die die Urteilskraft wechselseitiger Kompromisse immer stärker vermissen lassen“, kann man Orwells Text als Plädoyer für eine demokratische Streitkultur verstehen, die auch oppositionelle, vom eigenen Weltbild abweichende Positionen in den Meinungsbildungsprozess integriert.

Info

Über Nationalismus: Mit einem Nachwort von Armin Nassehi George Orwell Andreas Wirthensohn (Übers.), dtv 2010, 64 S., 8 €

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