These Prof. Schütz hat wieder Lektüre sortiert, da sind 7.400 Hexameter „Über die Natur der Dinge“, es geht um Köln und Kommerz und, oha, um die Monogamie als Sexualmodell
Heute, da allenthalben von der Politik über Künstler bis zu selbsternannten Intellektuellen alles darin wetteifert, wie nahe man sich an die Religion drängen kann, kommt er gerade recht. Lukrez und sein Buch Über die Natur der Dinge – so etwas wie das Alte Testament derer, die stark genug sind, nicht an Gott glauben zu müssen.
Gehört dieses Buch hier rechtens unter die Sachbücher? Immerhin ist es in Versen geschrieben, in 7.400 lateinischen Hexametern, makellosen, wie Experten sagen. Nun, zum einen ist es eine Naturlehre, die ihresgleichen sucht, zum anderen rückt die Prosaübersetzung von Klaus Binder – nebst einem grandiosen Erklärungsteil – das Werk näher ans Sachliche als die meisten der nebbichen Sächlichkeite
Sächlichkeiten, die man als Sachbuch anpreist.Man möchte unentwegt daraus zitieren – so klar, so klug, so durch und durch durchdacht ist es in allem, was es denkend angeht. „Kein Ding entspringt durch göttlich wundersame Kraft jemals dem Nichts.“ Alles ist Bewegung von Urelementen, wir sagen heute Atome. Der Mensch ist, wie die Natur ringsum, wie der Kosmos, Materie, eine Ballung von Elementen. Stirbt er, ist auch das, was er für seine Seele hält, dahin. „Ein Leben nach dem Tod gibt es nicht.“ Darum: Carpe diem! Wer nicht mehr ist, „der kann nicht unglücklich sein“. Die Liebe ist schöner Wahn um der Zeugung willen. Nicht zuletzt wird sie durch Gewohnheit erzeugt.Schließlich auch dies: „Darum sollte man Menschen gerade dann beobachten, wenn sie im Zweifel sind und in Gefahr: Was tun sie angesichts widriger Lebenslagen? Denn erst dann wird die Wahrheit hervorgetrieben aus der Tiefe der Brust, die Maske fällt, und zutage tritt der wahre Kern.“ An Opportunismus hatte er dabei noch nicht einmal gedacht. Einen Satz wie den von Julian Barnes aber hätte er wohl zumindest hingenommen: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.“Mit den Dingen ist es ein eigen Ding. Wie lang ist es her, dass Georg Lukács mit der Verdinglichung ein handliches Instrument zur Kapitalismuskritik im Großeganzen wie Kleinlichen an die Hand gab! (Der Journalismus zum Beispiel als Höhepunkt der Selbstverdinglichung!) Irgendwann ist uns die Verdinglichung entfremdet worden. Nun kehrt sie zurück.Nein, die monumentale Untersuchung zur Herrschaft der Dinge widmet sich dem Konsum, seiner Geschichte. Dies ist eine monumentale Globalgeschichte, Zwilling von Jürgen Osterhammels hochgerühmter Verwandlung der Welt. Sie lehrt in einem fakten- wie anekdotenprallen Parcours von der Frühen Neuzeit bis heute, von Europa über Asien nach Amerika und zurück, dass dieser Herrschaft der Dinge mit Schreckbildern des Konsumterrors so wenig beizukommen ist wie mit Glücksversprechen der Selbstbeschränkung. Der Konsum ist ein Chamäleon, das sich den jeweiligen Verhältnissen anpasst, sie zugleich stimuliert und verwandelt, seinerseits unausweichlich stimuliert durch den Wunsch nach Komfort wie den Drang zur Repräsentation. Identitätserzeugung über die akkumulierten Dinge – Psychisches ist für Frank Trentmanns Sicht der Dinge ebenso wichtig wie die technologisch stimulierten Wirtschaftsaufwüchse.Die „Kommerzialisierung des Alltags“ findet er nicht erst im 20., sondern im Italien des 15. wie im China des 16. Jahrhunderts. Für ihn gibt es keine wirkliche Alternative zum Konsum, es sei denn ein Regime wie das von Pol Pot. Das mag man für überpointiert halten, indes wird alles Gerede vom Konsumismus und von der Konsumidiotie sich an den Argumenten dieses Buchs messen lassen müssen.Bei Trentmann werden unter die Titel-Dinge auch Dienstleistungen, Sozialfürsorge und Infrastrukturen subsumiert. Infrastrukturen sind Ding und Netz gewordene Wünsche nach Komfort (und Status). Sie sollen möglichst funktionieren wie die Heinzelmännchen von Köln: perfekt und unauffällig. Was läge da näher, als die „materiellen Fundamente unserer vernetzten Gesellschaft“ am Beispiel Kölns zu untersuchen, zumal dort Schicht für Schicht bis auf die Römer zurückgeht? Schön symbolträchtig doch auch, dass just beim Bau der U-Bahn das Stadtarchiv im Untergrund verschwand. Überdies ist schön, dass Dirk van Laak seinen historischen Lehr-, Quer- und Tiefgang in Archäologie des Alltags. Köln und seine Infrastruktur auf 64 Seiten knapp gehalten hat. Dabei aber sehr anschaulich durch Daseinsfürsorge und Grundversorgung, Gemeinwohl und Verhäuslichung führt, durch Wasserwirtschaft von Hochwasserabwehr und Brunnenbau bis Bäderbetriebe. Abwässer nicht zu vergessen. Dann, ursprünglich weniger reguliert, Gas, Strom und Telefon. Schließlich Straßen, die Infrastruktur der Auto-Stadt (und mühsam des Fahrrads), wobei sich an Köln besonders fein zeigen lässt, wie Prognosen immer unzulänglich blieben, weil jede Erweiterung neuen Verkehr erzeugt.Hier geht es nicht um Rad, Nylons oder iPhone. Die Anfänge, nach denen Jürgen Kaube sucht, sind grundsätzlicher. Nicht ihr geringster Reiz ist, dass sie weitgehend im Dunkel liegen. Und allermeist haben sie kein unmittelbares Vorbild in der Natur, stammen aus langen Experimentallinien und nicht aus jähen Fulgurationen. Überraschung und Desillusion: Die monogamen Vögel gingen, wie sich erweist, gern fremd. Kaube erklärt die Monogamie als Sozialmodell, das auf einem unwahrscheinlichen Sexualmodell basiert. Entstanden wahrscheinlich in bäuerlicher Sesshaftigkeit.Das nun ist schon der Zielpunkt der Anfänge von allem. Angefangen wird mit dem aufrechten Gang und dem Kochen. Kaube diskutiert hier Hypothesen zur Arbeitsteilung der Geschlechter und weist auf eine elementare Folge hin: „Kochen heißt: den Hunger aufschieben.“ Weiter geht es mit Sprechen und Sprache, dem Weg des vocal grooming, vom Schmatzen zum Plappern zum Klatsch, der abwesende Dritte voraussetzt.Monokausalität ist Kaube ein Graus. Sein Spezialgebiet sind die jeweiligen Forschungsergebnisse und -hypothesen. Kaube erzählt immer wieder plastische Anekdoten, diskutiert die Vorschläge der Wissenschaften; er prüft Modelle gegeneinander, wägt Interpretationsmöglichkeiten ab. Vor allem stellt er immer wieder scharfsinnige Fragen, die niemals zu einlullenden Antworten führen. Weit über 600 Spezialtitel führt der Anhang auf. Alles das macht Kaubes Buch zum Paradefall eines wirklich erhellenden Sachbuchs. Doch bündelt es nicht nur den Stand des verfügbaren Wissens, sondern ist überdies ein Protophilosophikum, ein unaufdringlicher Lehrgang im wissen wollenden Fragen.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2Placeholder authorbio-1
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