Siegfried Lenz, inzwischen 83 Jahre alt, hat mal wieder einen Bestseller geschrieben. Er heißt Die Schweigeminute. Seit seinem ersten, 1968 erschienenen Bestsellerroman Deutschstunde sind nun fast 40 Jahre vergangen. Bekanntlich inspirierte ihn zu diesem Roman das Schicksal des Individuums im "Dritten Reich", seine Mitschuld und Mitverantwortung. Mit dem Buch brachte Lenz das zentrale Thema der deutschen Nachkriegsliteratur inmitten der blühenden Wohlstandszeit auf den Punkt.
Der Roman, der zwar noch einige ästhetische Schwächen aufwies, hatte dennoch einen phänomenalen Erfolg, was nicht zuletzt am politischen Klima der Bundesrepublik Deutschland Ende der sechziger beziehungsweise Anfang der siebziger Jahre lag. Mit seinem Helden, Siggi Jessen, dem Insassen einer An
n einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche, traf Lenz die ästhetischen Erwartungen der Studentenbewegung und gewann eine breite Leserschaft. Seitdem kann sich Lenz der Treue seines Publikums sicher sein. In seinem jüngsten Roman hat er zum ersten Mal eine Liebesgeschichte geschrieben. Welchem seiner vielen Leser hat er wohl diesen Wunsch abgelauscht?In Schweigeminute erzählt Siegfried Lenz eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen dem 18-jährigen Schüler Christian und seiner 30-jährigen Englischlehrerin Stella. Das Thema ist nicht neu: eine ähnliche Liebesgeschichte sorgte im Jahre 1970 in dem Film Sterben vor Liebe des französischen Regisseurs André Cayatt für Furore. Die Englischlehrerin Stella in der Schweigeminute hat viele charakteristische Züge der Lehrerin, die im Film von Annie Girardot gespielt wurde. Stella muss aber, dank der barmherzigen Phantasie des Autors, nicht ins Gefängnis: Christian und seine Lehrerin verleugnen ihre Liebe in der Öffentlichkeit. Sie küssen und umarmen sich "im Freien" vor allem unter Wasser, wenn sie tauchen oder im Meer schwimmen.Die Liebesgeschichte, die Lenz in 128 Seiten erzählt, spielt an der Küste in der Nähe der deutsch-dänischen Grenze. Die Protagonisten gehen in dieser malerischen Landschaft schwimmen, rudern, segeln und angeln. Im Hintergrund sind immer Schlauchboote, Lastkähne oder Ausflugsdampfer unterwegs. Ein Touristenhotel, in dem Stella vorübergehend wohnt, schmückt diese idyllische Landschaft. Man hört im Radio die Songs von Ray Charles. Eines Tages streichelt Christian, der sonst sehr zurückhaltend wirkt, unerwartet Stellas Rücken. Sie sieht ihn überrascht an. Und es funkt sofort zwischen beiden. Ohne etwas zu sagen, stehen sie auf und gehen zum Hotel, in Stellas Zimmer. In ihrem Bett gibt es nur ein Kissen, auf dem beide schlafen, nachdem sie sich zum ersten Mal geliebt haben: "Sie wollte nicht, dass ihr Kopf in der Mitte des Kopfkissens lag, es war ein breites, geblümtes Kopfkissen, das Platz für zwei bot, mit einer beherrschten Bewegung warf sie sich auf und gab die Hälfte des Kopfkissen frei oder trat sie mir ab, ohne ein Zeichen, ohne ein Wort, dennoch bewies mir das Kopfkissen eine unübersehbare Erwartung."Das breite Kissen verwandelt sich danach in Christians Phantasie in ein unverwechselbares Liebesbild. Wenn er während des Unterrichts plötzlich in die Sehnsucht nach Stella verfällt, träumt er mit offenen Augen von diesem geblümten Kopfkissen. An seine eventuelle Rivalen denkt er auch nach "Kopfkissen-Muster": "Die Vorstellung, dass auch er einmal ein Kopfkissen mit Stella geteilt haben könnte, wollte mir nicht gelingen."Mit dem Kopfkissen beschäftigt sich Christian so intensiv, dass er fast alles im Unterricht verpasst. Es ist die Zeit, in der Schüler über William Faulkner debattieren, über George Orwells Farm der Tiere und über weise Statements wie Die Revolution frisst ihre Kinder nachdenken müssen. Mehr verrät Lenz über die Zeit, in der diese Liebesgeschichte aufblüht und tragisch endet, nicht.Über die Vergangenheit des Schülers Christian und seine heiß geliebte Lehrerin verrät Lenz auch nichts. Höchstens erfährt der Leser etwas über die Vergangenheit von Stellas Vater, der immer präsent ist. Nachdem sie sich einmal "in der Mulde bei den Kiefern" geliebt haben, erzählt sie von ihm, während Christians "Kopf in ihrer Armbeuge" liegt: "Mein Vater war Bordfunker in einem Bombenflugzeug, seine Maschine wurde schon beim ersten Angriff abgeschossen, seine Kameraden starben, er überlebte, sein Fallschirm funktionierte."Vielleicht ist diese Schilderung eine der längsten Monologe in Lenz Novelle. Seine Charaktere sind grundsätzlich einsilbige, schweigsame Menschen, zurückhaltende Betrachter, die den ökonomischen Umgang mit den erzählerischen Mitteln von ihrem Schöpfer gelernt haben: Lenz geht auch extrem sparsam, fast geizig mit der Beschreibung seiner Charaktere oder Landschaften um: Mit kurzen, spärlichen Strichen zeichnet er Menschen und Natur, sowie ihre engen Beziehungen und Bindungen.Großzügig setzt Lenz aber ein ästhetisches Element ein, das er fabelhaft beherrscht: den Zeit- und Perspektivenwechsel. Der Ich-Erzähler, Christian, setzt das stellvertretend in der Novelle um. Mit der Verschiebung des Blickwinkels erreicht der Ich-Erzähler eine Ebene, auf die er seine Sehnsucht und seine Liebe in gewöhnlichsten Situationen bildhaft darstellen kann, wie etwa: "Ich beeilte mich, Stellas Photo an den gewünschten Platz zu bringen. Wieder, Stella, trug ich dein Photo unter dem Pullover".Mit diesem künstlerischen "Trick" spart sich der Autor jede Bewegung und schafft es, einen im Zaum gehaltenen Gefühlsausbruch einzuleiten. Dass er sich dadurch die Möglichkeit vorenthält, in der Geschichte Spannung aufzubauen, ist dem erfahrenen Novellisten bewusst. Nachdem sich sein Werk in voluminösen Werkausgaben gesammelt hat, will Lenz seiner treuen Leserschaft noch eine schlichte Liebesgeschichte ohne Pathos und Spannung erzählen. Man hört und liest sie wirklich gern. Nicht nur, weil man als Lenz-Fans nicht als "treulose Tomate" bezeichnet werden möchte.Siegfried LenzSchweigeminute. Novelle. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008, 128 S., 15,95 EUR
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