Lieber nicht

A–Z Verweigerer Starschriftsteller Philip Roth, der am 19. März 80 Jahre alt wird, hat angekündigt, nie mehr zu schreiben. Nicht der einzige Kompetenzverweigerer. Das Lexikon der Woche
Ausgabe 11/2013

A

Archetyp Bartleby war der erste Besetzer der Wall Street. Er war da, lange bevor sich die ersten Occupy-Aktivisten dort niedergelassen haben. In Herman Melvilles Novelle von 1853 arbeitet Bartleby der Schreiber in einer Kanzlei in der Wall Street, schreibt Aktienpapiere und Kursbücher ab. Schon bald verweigert er jeden Auftrag mit den Worten: „I would prefer not to“ – „Ich möchte lieber nicht“. Tagelang lungert er nach seinem Rauswurf an der Wall Street still in der Kanzlei herum. Die Menschen zerbrechen sich den Kopf, fragen ihn, was das soll, was er gerne ändern würde. Bartleby entgegnet nur: „I would prefer not to.“ Auch das Essen stellt er ein und verhungert im Gefängnis.

Gilles Deleuze ließ ihn wieder auferstehen, fand 1989 in seinen Worten die Protestformel für das „Ende der großen Erzählungen“: Wenn es keine Alternative mehr gibt, bleibt nur Totalverweigerung. Als man 2011 im Zuccotti Park Occupy-Aktivisten mit „I would prefer not to“-T-Shirts herumlaufen sah, war Bartleby wieder zu Hause angekommen. Wir hoffen, er kann nun mit der Arbeit an einer besseren Welt beginnen. Sebastian Dörfler

E

Ewiger Kandidat „To tell you the truth, I am done.“ Berühmte letzte Worte eines Schriftstellers, der keiner mehr sein will. Gesprochen von Philip Roth, „einem der männlichsten, der ältesten und der amerikanischsten aller amerikanischen Schriftsteller“, schrieb die Zeit. Er hat für seine Bücher alle wichtigen Preise erhalten, nur den einen noch nicht, den größten, den Literaturnobelpreis, für den er jedes Jahr wieder als heißer Kandidat gehandelt wird. Doch im vergangenen Oktober verkündete der 79-Jährige in einem Interview mit dem französischen Magazin Les Inrockuptibles, dass er die Schriftstellerei an den Nagel hängen werde. Keine Lust, kein Feuer, kein „Fanatismus“ mehr, wie er selbst sagte. Er habe sein komplettes Leben dem Roman gewidmet, alles andere sei auf der Strecke geblieben. Sein Lebenswerk wollte Roth damit aber nicht in Frage stellen. Er habe angefangen, alle seine Bücher noch einmal zu lesen. Sie seien gut. Eine Werbebotschaft an die schwedische Akademie? Mark Stöhr

F

Fußball Der hochtalentierte Tobias Rau wollte als 27-Jähriger lieber an die Uni, als weiter Profifußballer zu sein. Meistens jedoch, wenn ein Spitzenspieler seine Laufbahn früh beendet, geschieht dies nicht freiwillig. Sebastian Deisler, dem man eine Weltkarriere voraussagte, litt unter Depressionen, als er mit 27 Jahren aus dem Fußball ausschied, Uli Hoeneß zwang im gleichen Alter ein Knorpelschaden dazu, ins Managerfach zu wechseln. Um echte Kompetenzverweigerer im Fußball anzutreffen, muss man daher schon auf die Bolzplätze und zur Jugend gehen. Gegen wie viele junge Türken habe ich schon gekickt und dabei uralt ausgesehen, weil sie technisch so brillant waren, dass sie einem Bastürk (was macht der eigentlich heute?) das Wasser reichen konnten. Fußballgenies, von denen man nie wieder hörte. Was sie und ihr Talent vom großen Erfolg abhielt, weiß ich nicht. Ein Elend ist es allemal. Michael Angele

H

Hitchcock-Muse „Grace Kelly ist ein schneebedeckter Berg, und wenn der Schnee schmilzt, entdeckt man darunter einen glühenden Vulkan“, soll Alfred Hitchcock einst über seine Muse gesagt haben. Zarte 23 Jahre alt war die kühle Blonde aus Philadelphia, als sie dem damals schon renommierten Regisseur 1953 begegnete. Er wurde ihr Mentor, half ihr bei der Perfektionierung ihres Images und spornte sie in den drei gemeinsamen Filmen zu Höchstleistungen an. Das Fenster zum Hof gilt bis heute als einer der Krimi-Klassiker der Filmgeschichte. Privat standen die beiden sich sehr nahe und sollen sogar eine Affäre gehabt haben. Im Jahr 1956 beendete Kelly ihre Karriere, um sich ganz der Rolle der Fürstin von Monaco zu widmen. Sie wäre einer Rückkehr vor die Kamera nicht abgeneigt gewesen, als „Hitch“ ihr 1962 die Hauptrolle in Marnie anbot. Doch die Öffentlichkeit mokierte sich über die Rolle als Kleptomanin. Gracia fügte sich. Tippi Hedren freute sich. Sophia Hoffmann

I

Innere Emigration „Lieber überleben, lieber noch da sein, weiter arbeiten, wenn erst der Spuk vorüber war“, so beschrieb Marie Luise Kaschnitz die Beweggründe für die Kompetenzverweigerung vieler Künstler im Nationalsozialismus, die unter dem Stichwort „Innere Emigration“ in die Kulturgeschichte einging. Denn nicht jeder hatte den Mut oder die Chance zur Flucht. Viele Schriftsteller und Künstler wurden an der Ausreise gehindert und zugleich mit Berufsverboten belegt. Aus Protest gegen die Hitler-Diktatur zogen sich viele von ihnen ins Private und in das Schreiben über unbedenkliche Themen zurück oder beteiligten sich an widerständischen Aktivitäten wie dem Verbreiten von illegalen Schriften. Nach der Befreiung gerieten die inneren Emigranten mit den Ausgereisten über die richtige Haltung in Streit. Zu bewerten ist dies wohl nur im Einzelfall. Tobias Prüwer

M

Maestro Man kann kaum von einem plötzlichen Aufhören sprechen, wenn jemand 2013 bekannt gibt, seinen Posten 2018 niederzulegen. Kürzlich kündigte Simon Rattle, gefeierter Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, an, seinen Vertrag nicht noch einmal zu verlängern. Er sei sich sicher, dass bis dahin ein großartiger Nachfolger gefunden sei. Rattle handelt damit nach dem Motto „Aufhören, wenn’s am schönsten ist“. Das mag für seine Fans und für das Orchester bedauerlich sein, langfristig gesehen aber ist es sicherlich eine weise Entscheidung. Nicht nur um den eigenen Mythos zu festigen. Sondern um, ganz einfach, einen verdienten Ruhestand zu genießen. SH

S

Scheiben schießen Ein richtiges „bayerisches Cowgirl“, diese Magdalena Neuner. Sie lief und schoss schneller als ihr Schatten, gewann im Biathlon alles, was es zu gewinnen gab. In ihrer Freizeit strickte sie und spielte Harfe. Wir Deutschen lieben so eine. Und viele weinten bitter, als sie vergangenes Jahr – mit gerade einmal 25 – in Rente ging. Sie sei nahe am Burn-out gewesen, begründete sie ihren Schritt, zumal seien etwa die Olympischen Spiele nur noch eine einzige „Kommerzmaschine“. Dafür liebten wir sie noch mehr. Doch halt! Hatte die Neuner tatsächlich den Kommerz kritisiert? Die Frau, die sich zu ihrer aktiven Zeit ganz dicke Scheiben von den Werbebudgets schoss und zur ersten Biathlon-Millionärin überhaupt aufgestiegen war? Die immer noch in einer dusseligen Eon-Kampagne die energiebewusste Hausfrau spielt? Magdalena, bleib in deiner Loipe! MS

T

Trend „Kompetenzverweigerung light“ könnte man den Trend unter jungen Arbeitnehmern nennen, zugunsten von Freizeit und privatem Glück auf die ganz steile Karriere zu verzichten. Einerseits klagen Unternehmen, dass gerade die Hochschulabsolventen nach der Studienreform weniger Fachwissen mitbringen als frühere Jahrgänge. Andererseits haben die Kandidaten anscheinend selbst weniger Bock auf den so genannten Karrieredurchstart. Das zumindest vermeldete 2012 eine Absolventenstudie, bei der 355 Studierende verschiedener Fächer befragt wurden. Der Studie zufolge hat ein harmonisches Privatleben für deutsche Hochschulabsolventen die höchste Priorität. 71 Prozent aller Befragten gaben an, Familie und ein funktionierender Freundeskreis gehörten zu den wichtigsten Zielen in ihrem Leben. Die Selbstverwirklichung liegt mit 48 Prozent auf Platz zwei, Erfolg und Karriere erachten nur 43 Prozent der Umfrageteilnehmer als wichtig. Ganz unten rangiert das rein materielle Vergnügen: Konsum und Reichtum als wichtiges Lebensziel liegen mit zwei und ein Prozent abgeschlagen auf den hintersten Rängen. TP

U

Ultimatum Was man über Peter Neururer noch nicht wusste: Er ist ein begnadeter Donald-Duck-Imitator. Als Trainer beim VfL Bochum quakte er vor einem Spiel gegen den FC Bayern in der Kabine mal los. Weil seine Spieler so nervös waren. In Bochum hat der 57-Jährige immer noch einen guten Namen, nur nicht bei der Vereinsführung. Ein Jobangebot? Fehlanzeige. Seit Oktober 2009 ist Neururer arbeitslos. Er nennt das: „Nicht im Amt“. Im Juni 2012 erlitt er einen Herzinfarkt. Er nennt das: „Ein Ereignis“. Kurz darauf stellte er ein Ultimatum: „Wenn ich in dieser Saison keinen Job als Cheftrainer oder Sportdirektor bekomme, ist Schluss.“ Die Fußballwelt nahm die angedrohte Kompetenzverweigerung zur Kenntnis – und schwieg. Vielleicht weil Neururer zur Fußballmoderne so gut passt wie Rehhagel oder Augenthaler? Seit Neuestem hat er immerhin einen Job als Spielerberater. Das Ultimatum läuft weiter. MS

Unabomber Theodore Kaczynski, 1942 in Chicago geboren, wurde als der Unabomber bekannt. Diesen Namen gaben ihm Ermittler, weil er zwischen 1978 and 1995 Paketbomben vor allem an Universitätsmitarbeiter verschickte. Drei Menschen starben, 29 wurden verletzt. Der hochbegabte Mathematiker hatte sich 1969 von einer Professur an der Universität von Kalifornien in die Berge von Montana zurückgezogen. Dort lebte er als Einsiedler und startete seine Attentatswelle. „Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“ lägen ihm am Herzen, erklärte er in einem 1995 veröffentlichten Manifest, das hochpopulär wurde und aus dem sich auch der norwegische Massenmörder Anders Breivik bediente. Wissenschaft und Technologie manövrierten die Menschheit in den Abgrund, heißt es dort weiter – was die Auswahl der Opfer erklärt. 1996 wurde Kaczynski in seiner Waldhütte überwältigt und zu lebenslanger Haft ohne Begnadigung verurteilt. TP

Umstieg Sie wollte nicht mehr zaubern, oder andere zaubern lassen. Und als eine literarische Nanny hat sie sich sowieso nie gesehen. J.K. Rowling, Erfinderin von Harry Potter, hatte Herzen gewonnen – und dazu den Status, der erste Mensch zu sein, der sich ein Milliardenvermögen erschrieb. Dann fragte sie sich: Und jetzt? Was soll kommen – außer Routine. Und noch mehr Geld. Rowling wollte beweisen, dass sie eine echte Schriftstellerin ist und schrieb deshalb „ein Buch für Erwachsene“.
Ein plötzlicher Todesfall spielt in dem englischen Kleinstadtmilieu, dem auch Harry Potter entstammt. Man solle ihr neues Werk aber nicht mit Potter vergleichen, wünschte sich Rowling. Das mussten die Kritiker gar nicht, um sich einig zu sein: Dem Roman fehlt ein Zauberer. Oder eine gute Autorin. Maxi Leinkauf

Z

Zehn Filme Ende 2012 verkündete Quentin Tarantino sein zeitnahes Regie-Aus. Aus Angst, schlechte Filme zu drehen, will er rechtzeitig aufhören. Einen Zeitpunkt gab er nicht an, machte aber die Dimension der kommenden Verweigerung klar. Zehn Filme unter seiner Regie hält er für ein angemessenes Pensum, dann soll Schluss sein. Bisher kommt er – zählt man den Zweiteiler Kill Bill als einen – auf acht Streifen. Viel Raum bleibt dem kinoverliebten Tarantino, der stets auch eine Hommage ans Filmsujet abliefert, also nicht mehr. Hoffen wir, dass der Schöpfer von Pulp Fiction, From Dusk Till Dawn und Django Unchained dem Publikum danach zumindest als Produzent und – besonders! – als Autor erhalten bleibt. TP

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden