Die Schule der Ideologiekritik, die auch bei denen nachwirkt, die sie nicht besucht haben, hat der Verachtung der niederen Künste ein gutes Gewissen verschafft. Wer die Produkte der leichten Muse schon immer für „Schund“ hielt, kann sich dort die Argumente borgen, um sein Ressentiment als qualifiziertes Urteil auszugeben. Ohne den Anschein moralischer Überheblichkeit lässt sich dann darüber räsonieren, dass Unterhaltungskunst den Verblendungszusammenhang verstärke und diejenigen, denen sie Lust bereitet, in Wahrheit dumm halte. Ob all das nicht genauso auf die längst ebenfalls zur Ware erstarrten Werke der Hochkultur zutrifft, wird hingegen selten gefragt. Im Gegenteil sind sich die Ideologiekritiker mit den Bürgern im kulturellen Ka
Kanon einig: Leichte Kost ist verderblich, ernste Kunst wiegt schwer.Diese Verachtung des Trivialen hat mit der Kritik Adornos und Horkheimers an der Kulturindustrie weniger zu tun, als ihre Vertreter meinen. Anders als in Frankreich, wo auch poètes maudits wie Baudelaire und Verlaine ihrer Amoralität zum Trotz früh zum literarischen Kanon gehörten, musste in Deutschland hohe Kunst seit jeher pädagogisch wertvoll sein – und umgekehrt. In der Frühzeit der Unterhaltungskunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Kampf gegen die „Schund- und Schmutzliteratur“ erstmals als nationale Aufgabe begriffen. In der kollektiven Abwehr des Seichten, das statt an den gebildeten Geschmack an die niederen Instinkte appelliere, vermochte sich die noch gar nicht Staat gewordene Nation zumindest ästhetisch zu konstituieren. Der egalitäre Impuls, der dem Bemühen, die niederen Klassen an die hohen Künste heranzuführen, anfangs noch innewohnte, ging spätestens verloren, als Bismarck den Traum vom geeinten Reich staatliche Realität werden ließ. Nun wurde der Kampf gegen das Seichte immer offener als Kampf gegen „zersetzende Kräfte“ geführt, die vorgeblich die nationale Einheit bedrohten.Schädlicher HochstaplerSo geschah es, dass einer, der später selbst nicht ganz zu Unrecht als Wegbereiter völkischen Denkens ausgemacht wurde, in der Frühzeit seiner Karriere als Staatsfeind und Verderber der Jugend denunziert werden konnte: Karl May, dessen biografische Neigung zum Hochstaplertum und zur Halbwelt in den Augen seiner Gegner durch sein literarisches Werk bestätigt wurde. Im späten 19. Jahrhundert galten Mays Bücher als beispielhaft für die „Backfischliteratur“, eine abwertende Bezeichnung für kolportagehafte Abenteuerromane, denen eine gesundheitsschädliche somatische Erregung, ähnlich der verpönten Masturbation, zugeschrieben wurde. Anders, als man heute annehmen könnte, war May zwar ein typischer Jugend-, keineswegs aber nur ein typischer Jungenautor.Unter dem Schlagwort „Backfischliteratur“ wurde bevorzugt vor der sexuell verderblichen Wirkung von Abenteuer- und Indianergeschichten auf Mädchen gewarnt; der „Backfisch“ war, wenngleich grammatisch männlich, eine weibliche Kulturfigur. Zugleich ist das Wort eine Bezeichnung für die Frühpubertät, die schon immer eine exklusive Gefahrenzone für Pädagogen gewesen ist. Da sich die Kinder in ihr intellektuell und körperlich rasant zu entwickeln beginnen, müsse, so die nahezu einhellige Überzeugung, diese Entwicklung volkspädagogisch genutzt, an den richtigen Stellen gefördert und in moralisch korrekte Bahnen gelenkt werden. Als eine der ärgsten Bedrohungen dieser Bemühung galt die Kolportageliteratur eines Karl May.„Vorzüglicher Nährboden“Der bekannteste Karl-May-Exorzist jener Jahre war selbst Pädagoge: der sozialdemokratische Volksschullehrer Heinrich Wolgast, Wortführer der seinerzeit als progressiv geltenden Jugendschriftenbewegung, die sich für die frühe Heranführung der Zöglinge an hohe Kunst und die Entwicklung einer „wertvollen“ Kinderliteratur einsetzte. In seinem 1896 erschienenen, bis in die zwanziger Jahre vielfach wieder aufgelegten Pamphlet Das Elend unserer Jugendliteratur fungiert May als Prototyp einer Fantastenliteratur, welche die Jugend dem Realitätsprinzip entwöhne. Der Denunziation dieser Gefahr dient seine phänomenologisch gar nicht falsche Charakteristik: „Den gewöhnlichen Lauf der Dinge gibt es für Karl May nicht; er hängt ein Abenteuer an das andere. (…) Eine ungenierte Mischung von Zufall und Übermenschlichkeit des Helden motiviert und löst alle Konflikte.“ Die „Zerrgestalten“ solcher „Schundwerke“, heißt es weiter, töteten „das natürliche sittliche Empfinden“ und drängten „den jugendlichen Geist in eine phantastische Stimmung, die einen vorzüglichen Nährboden für Ausschreitungen“ abgebe.Kein reichsdeutscher Konservativer, sondern ein linker Pädagoge bringt den Zusammenhang zwischen ästhetischem Bildungsideal und Staatsbürgerkunde auf den Punkt, wie er sich am Kampf gegen Karl May kristallisierte: Das als Einheit von Vernunft und Formschönheit gepriesene ästhetische Ideal, das „Zerrgestalten“ ebenso wenig kennt wie die losgelassene Fantasie, soll in Wahrheit nur den „gewöhnlichen Lauf der Dinge“ verdoppeln, jede Abweichung von ihm ist nicht nur ein künstlerischer Fauxpas, sondern bereits eine potenzielle „Ausschreitung“.Kein Wunder, dass Karl May in jener Zeit bei Wolgasts eigenen Genossen in der Avantgarde als Wegbereiter autonomer ästhetischer Phantasie geradezu bewundert wurde: Georg Heym, Herwarth Walden, Else Lasker-Schüler und viele andere verteidigten ihn gegen die literarische Säuberungskampagne der ästhetischen Pädagogen. Ein Nachklang dieser Bewunderung findet sich noch im Werk von Ernst Bloch, für den die Karl-May-Lektüre zum kindlichen Urbild utopischen Denkens wurde. May selbst war da allerdings schon vom charmanten Hochstapler zum professionellen Kolporteur geworden, der sich seinerseits der Nation als schillernder Prophet andiente. Aber das ist eine andere Geschichte.