Lindenstraße

A–Z Nicht alle gucken „Homeland“: Hardcore-Fans halten zur „Lindenstraße“. Am 6. Dezember feiert sie mit einer Live-Folge ihren 30. Geburtstag. Das Wochenlexikon
Ausgabe 49/2015
Lindenstraße

Foto: HRSchulz/Imago

A

Avantgarde Diese Seifenoper hat ein altbackenes Image (➝ Peinlichkeit). Fans aber wissen: Die Lindenstraße ist Avantgarde. Gesellschaftliche Fragen, die heute verhandelt werden, hat sie längst schon durchgespielt. Wenn jetzt zum Beispiel über das volle Adoptionsrecht für Homosexuelle debattiert wird, blickt das lesbische Paar mit Kind in der Serie bereits auf Scheidung und Rosenkrieg ums Sorgerecht zurück (➝ Gender).

Am 1. März 2009 lief die Folge „Dschihad“, nach der Konvertit Timo – Job verloren, große Liebe kaputt – ins Ausbildungslager nach Pakistan fliegt und später wegen Hilfe bei der Vorbereitung eines Anschlags in Haft muss. Inzwischen ist Timo zurück und seit kurzem mit Lea liiert, die gerade noch im Sumpf der Neuen Rechten steckte und dabei half, eine Moschee in der Lindenstraße zu verhindern. Bevor Timo Bombenbastler geworden war, hatte er ein solarbetriebenes Auto gebaut – 1990, lange vor dem Klimadiskurs. Und Leitmotiv der am Abend der Bundestagswahl 2005 ausgestrahlten Folge war: „Lernen, mit Bundeskanzlerin Angie zu leben“. Sebastian Puschner

B

Beimer Die Beimers sind der genealogische Nukleus der Lindenstraße. In der ersten Folge stellten die Darsteller von Mutter Helga, Vater Hans und Sohn Klaus dem Publikum ihre Figuren persönlich vor. Mutter Beimer brät sich zur Beruhigung heute noch immer ein Spiegelei und kämpft gerade gegen Großkapitalisten (➝ Links). Vater Hans, längst verpartnert mit seiner Ex-Affäre Anna, teilt mit dieser den einstigen Beruf (Sozialarbeiter), sodass die beiden der Darstellung von Altersarmut dienen. Und die Kinder: Klaus, der einige Zeit den ersten Neonazi der Serie gab, ist nun Journalist für ein Frauenmagazin und hat seine Vergewaltigung durch die Ex-Prostituierte Nastya noch nicht verarbeitet. Marion, die sich in einen Priester verliebte, den dann die ewige Intrigantin Lisa mit einer Bratpfanne erschlug. Schließlich der früh gestorbene Benny, dessen Darsteller heute im Berliner Bötzowviertel ein Café betreibt, mit seinem Konterfei. Elke Allenstein

C

Chronologie Die erste Folge Lindenstraße lief am Sonntag, 8. Dezember 1985, um 18:40 Uhr in der ARD. Eigentlich wollte sie der Sender immer donnerstags im Hauptabendprogramm ausstrahlen. Deshalb spielen die Geschichten meist auch donnerstags, ausgenommen Feier- und Wahltage. Einen Was-bisher-geschah-Rückblick zu 1.558 Folgen und 30 Jahren zu geben, ist sogar für mich unmöglich, obwohl ich schon gut 20 Jahre dabei bin.

Ich hatte etwa vergessen, dass es der heutige Wirt der Lindenstraße (➝ Griechenland) war, der den Hausarzt Ludwig Dressler mit dem Auto anfuhr und ihn für immer an den Rollstuhl fesselte. Was hilft: die Digitalisierung. Lindenstrasse.de ist voll von Rückblicken, Video- und Rollenchroniken. Ebenso nützlich ist der neue, aufwendige Bildband zur Serie. Oder ein Ausflug nach Speyer. Die Dauerausstellung im dortigen Technik-Museum zeigt etwa Originalrequisiten und die komplette Wohnküche von Else Kling. Elke Allenstein

D

Demokratie Hausmeisterin Else Kling (➝ Ensemble) war so fest wie nur möglich im CSU-Milieu verankert, folglich waren ihre Kommentare immer eine Bank, wenn Lindenstraße und Bundestagswahl auf denselben Sonntagabend fielen. Klings Tod hat mit dem großkoalitionären Spannungsabfall der letzten Jahre für eher maue Wahlabendfolgen gesorgt. Trotzdem beantragte noch 2013 ein Mann, die Wahl für ungültig erklären zu lassen. Die ersten Hochrechnungen gleich darauf in der Lindenstraße: Manipulation! Was er nicht wusste: Die „Lindenstraße“ schneidet nach der ersten Hochrechnung um 18 Uhr die Ergebnisse in die Folge, bevor sie um 18.50 Uhr ausgestrahlt wird, inklusive einer Szene mit Kommentaren zur wahrscheinlichsten Koalitionskonstellation. 2013 lagen Varianten zu Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot und Rot-Grün vor. Sebastian Puschner

E

Ensemble Wenn Harry Rowohlt mitmacht, kann’s so falsch nicht sein. Bis zu seinem Tod am 15. Juni dieses Jahres spielte er in gelegentlichen Auftritten den Penner Harry und damit eine Art modernen Diogenes: mit genauem Blick für die Abgründe des Lebens und Spott für jeden in der Sonne stehenden Wichtigtuer. Til Schweiger, einst Jo Zenker, soll Gerüchten zufolge in der Jubiläumsfolge am kommenden Sonntag (➝ Links) für einen Gastauftritt zurückkommen. Amorn Surangkanjanajai kam nicht wie sein Charakter Gung mit den Boat People aus Vietnam nach Deutschland, sondern als Student aus Thailand. 1998 inszenierte die Lindenstraße eine Kandidatur Gungs als Bundeskanzler, tatsächlich tauchten in einigen Städten Gung-Plakate auf, Stimmzettel wurden ungültig, weil Wähler ihnen „Gung“ hinzugefügt und angekreuzt hatten. Und Annemarie Wendl starb kurz nach dem rührseligen Serientod ihrer Else Kling im Mai 2006 im darauffolgenden September mit 91 Jahren selbst. Elke Allenstein

G

Gender Der erste gleichgeschlechtliche Kuss in einer deutschen Fernsehserie? 1987 in der Lindenstraße! Doch erst 1990, nach dem zweiten, begann die Hetzjagd: Der Boulevard skandalisierte, Morddrohungen gegen die Schauspieler Georg Uecker und Martin Armknecht folgten. Ueckers Rolle, der schwule Arzt (➝ Topografie) Carsten Flöter, wurde daraufhin für einige Jahre nach Australien geschickt.

Nach seiner Rückkehr heiratet er seinen neuen Partner Käthe und adoptiert einen 15-Jährigen, der mit HIV lebt. 1988 wurde eine andere Figur bereits zum ersten Seriencharakter Deutschlands, der am Virus starb. Etliche Kämpfe um Gleichstellung hat die Lindenstraße mitgefochten und -gewonnen, doch längst noch nicht alle. Erzieher Käthe sammelte zuletzt Unterschriften für die Abschaffung des Blutspendeverbots für Schwule. Elke Allenstein

Griechenland Beim Griechen heißt ein lesenswertes Buch des deutsch-griechischen Journalisten und Gastronomensohns Alexandros Stefanidis. Es macht greifbar, wie sehr die in den 1970er Jahren in Westdeutschland entstandenen griechischen Tavernen und ihr Publikum ein Spiegelbild linksliberaler Befindlichkeiten jener Zeit waren. In der Lindenstraße treffen sich der Stammtisch und die Mieterversammlung noch heute im Akropolis (➝ Topografie). Dessen ersten Wirt hat einst Kostas Papanastasiou gespielt.

Ihn trifft man heute in seinem realen griechischen Lokal am Berliner Savignyplatz. Es diente vielen vor der Junta geflohenen Griechen als Anlaufstelle, Papanastasiou erhielt 2012 das Bundesverdienstkreuz. Als aber in den ersten sieben Monaten 2015 ganz Deutschland über die Rolle Griechenlands in der Eurozone stritt, da ließ die Lindenstraße diese Steilvorlage erstaunlicherweise aus und blieb weitestgehend stumm zu den xenophoben Ausfällen mancher deutscher Kommentatoren (➝ Zukunft). Sebastian Puschner

L

Links Institutionen der Selbstvergewisserung sind wichtig – die Lindenstraße ist eine für linksliberale Milieus. Derzeitiger Hauptstrang ist die geplante Entmietung des Hauses Nummer 3 wegen der Luxuspläne chinesischer Investoren und deutscher Immobilienspekulanten. Deren Werkzeugkasten enthält natürlich Tricks zur Spaltung der Hausgemeinschaft. Und wer könnte es Hans ➝ Beimer und seiner Anna verwehren, dass sie und ihr mit Trisomie 21 lebender Sohn sich von einer Abfindung endlich den Traum vom kleinen Häuschen am Stadtrand erfüllen können.

Nach allem, was war: gewalttätiger Ex-Partner, Arbeitslosigkeit, Gefängnis, Kinder mit Bulimie und Drogenproblemen oder früh gestorben, mit 52 noch ein ungewolltes Kind, neuerdings Parkinson bei Hans und immer, immer Geldsorgen. Natürlich entscheiden sich die beiden richtig, denn die Lindenstraße ist nicht nur ein wöchentliches Plädoyer für Solidarität mit den von Leben und Kapitalismus Gebeutelten, für Empathie und Widerstand. Sie ist vor allem und ganz in diesem Sinne: eine Serie der Mieter. Sebastian Puschner

P

Peinlichkeit Wer sich als Fan outet, dem winkt von den meisten Mitmenschen bestenfalls ein mitleidiger Blick – so auch mir von meiner Partnerin zu Beginn unserer Beziehung. Aber nach der Geschichte vom „ersten Schwulenkuss im deutschen Fernsehen“ (➝ Gender) und ein paar Testfolgen wollte sie es nicht mehr missen, zur ➝ Avantgarde zu gehören. Gucken wir aber heute Lindenstraße aus der Mediathek auf unserem Balkon, dann muss ich zu Beginn und am Ende noch immer die Lautstärke herunterregeln: Die Qualitäten der Lindenstraße kennen viele nicht. Die schrille, seit Anbeginn unveränderte Titelmelodie dagegen schon. Sebastian Puschner

S

Schöpfer Hans Wilhelm Geißendörfer – Selbstbezeichnung „Alt-68er“, Träger des Bundesverdienstkreuzes – entwickelte die Lindenstraße in Erinnerung an seine Kindheit in einem Mehrfamilienhaus in Neustadt an der Aisch und nach einem Vorbild aus dem britischen Fernsehen:Coronation Street. 2001 erhielt er den Grimme-Preis in Gold. Mit seiner Tochter Hana baut er nun eine Nachfolgerin auf. Die hat viel zu tun, denn nach den Straßenfegerzeiten bis in die 1990er Jahre, mit oft über zehn Millionen Zuschauern, ist die von ihrem Vater einst ausgerufene Schmerzgrenze von vier Millionen längst unterschritten (➝ Zukunft). Nicht verzagen: Coronation Street feiert am 9. Dezember den 55. Geburtstag. Elke Allenstein

T

Topografie Sie spielt in München und wird bei Köln gedreht, doch das ist alles gar nicht so wichtig. Das Fundament des Gemeinwesens aus WGs, vielen Miet- und einigen Eigentumswohnungen bildet die intakte sozioökonomische Infrastruktur der Lindenstraße. Sie ähnelt der in der Coronation Street (➝ Schöpfer): Bäcker, Arzt, Friseur, Kfz-Werkstatt und seit 2009 das legere, gentrifizierungskompatible Café George, eine Franchise-Filiale, alles für die Bedürfnisse des Alltags; und für die Flucht aus diesem: ein Reisebüro.

Eine andere Ladenzeile beherbergte bisher einen Fahrrad-, einen Hemden- und einen italienischen Feinkostladen, eine Schuhmacherwerkstatt, einen erst bayrischen, dann türkischen Imbiss – heute ist dort der Bioladen untergebracht. Ohne gesunden Einzelhandel und den Gründungsmut selbstständiger Unternehmer gibt es eben keinen richtigen Kiez. Elke Allenstein

Z

Zukunft Zum 25. Geburtstag sagte Hans Geißendörfer über die Zukunft: „Gegen die Nuklearpolitik von Frau Merkel werden wir anspielen!“ Und sah in der damals fünf Jahre amtierenden Kanzlerin Ersatz für das Feindbild, das der Lindenstraße mit Helmut Kohl 1998 abhandengekommen war. Dreht sich die Welt in diesen Zeiten zu schnell für die Lindenstraße? „Es gibt immer weniger Tabus, und die Lindenstraße ist natürlich nicht mehr allein damit“, sagt WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn. Bis 2016 läuft der Vertrag. Die Macher täten gut daran, Themen der Zeit schneller und brachialer in die Serie zu holen (➝ Griechenland). Mit der Flüchtlingssituation soll das bald geschehen, heißt es. Sebastian Puschner

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