"Man muss Vertrauen haben zu Menschen die langsam lernen und buchstäblich Trauer bei der Verabschiedung eines jeden Gedankens empfinden, den sie einmal geliebt oder aus Not gefasst haben." Mit diesen Worten würdigte Oskar Negt einmal seinen Freund und Lehrer Alfred Sohn-Rethel. Zwischen den Zeilen aber hat er damit auch ein kleines Selbstporträt gezeichnet. Wer Anfang der siebziger Jahre in Hannover studierte und mit der Welt irgendwie nicht einverstanden war, kam am theoretischen Epizentrum der lokalen Studentenszene, der Fakultät V in der Wunstorfer Straße, nicht vorbei. Dort waren die Studenten ihrem eigenen politischen Selbstverständnis nach links, ganz weit links - oder ganz einfach orientierungslos verwirrt. Für mich, aus einer ländlichen Klein
einstadt kommend, ohne proletarischen oder anti-faschistischen Stammbaum, katholisch bis in die Zehenspitzen aufgewachsen, waren die ersten Erfahrungen in dieser kulturrevolutionären Atmosphäre Mark, Bein und Seelen erschütternd. Auf den Rat von Freunden ging ich in ein Seminar von Oskar Negt, weil man dort etwas vom Marxismus und jenen anderen Theorien lernen konnte, die in der heilen provinziellen Welt nur als staatszersetzend oder jugendgefährdend bekannt gewesen waren. Aber in der ersten Zeit verstand ich von den Vorträgen des Professor Negt immer nur Bahnhof. "Die Linke hat einen kühnen Anspruch an die Intelligenz der Menschen", las ich Jahre später im Tagebuch von Max Frisch. "Und dann aber auch noch an ihre Moralität. Und das bringt ihr die Noblesse, aber auch die Ohnmacht. Faschismus setzt einfach auf das Tier. Links ist eine Anstrengung. Lebenslänglich". Oskar Negts Veranstaltungen waren immer zum Bersten voll, doch da er auch viel publizierte, konnte man seine Ideen auch im kleinen Zirkel oder im Selbststudium kennen lernen. Im Mittelpunkt der von Negt vertretenen Auseinandersetzung mit dem Werk von Karl Marx standen die Kategorien des Lernens, der Erfahrung, der Phantasie und der Neugierde. "Die greifbare Chance", so Negt in seinen 1976 erschienenden Überlegungen zu einer kritischen Lektüre der Schriften von Marx und Engels, "den Leidensweg der individuellen Bildungs- und Sozialisationsgeschichte als Ausdruck von Klassenherrschaft zu dechiffrieren, eröffnet gleichzeitig Perspektiven von Erkenntnisprozessen, die Spaß machen. Dieser Spaß hört allerdings dann auf, wenn die Aneignung des Marxismus zum regulären Gegenstand von Lehrveranstaltungen wird." Orientiert an Ernst Bloch und Wilhelm Reich, nahm Negt das "ungleichzeitige Bewusstsein" ernst, mit dem auch ich durch die rote Universitätskultur jener Jahre herumirrte: soeben einer provinziellen Welt mit noch vor-modernen Glaubensritualen entkommen, musste ich mich bereits mit Strategien einer "permanenten Revolution" oder, etwas weniger exotisch, mit Theorien der klassenlosen Gesellschaft auseinandersetzen. Unter Bezug auf die Faschismusanalysen von Bloch plädierte Negt dafür, diese Ungleichzeitigkeit verstehen zu wollen. Er beharrte darauf, dass diese Widersprüche und Spannungen eines "ungleichzeitigen Bewusstseins" nicht durch Schulung allein, erst recht nicht durch indoktrinäre Formen der Wissensvermittlung aufzulösen waren. Negt hat Ideen von Bloch auch in die Diskussion über eine Neudefinition der gewerkschaftlichen Arbeiterbildung mit seinem Buch Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen (1971) einfließen lassen. Für uns Studenten, die wir uns langsam an die vorderste Front der Klassenauseinandersetzungen heranzutasten versuchten, war dieses Buch ein Schlüsseltext. Einige Zeit später erschien dann der erste zusammen mit Alexander Kluge geschriebene Theorie-Wälzer Öffentlichkeit und Erfahrung (1972). Erst heute im Kontext einer sich ständig weiter ausdifferenzierenden Medientechnologie und konzentrierenden Medienindustrie begreift man, wie revolutionär das Buch Anfang der siebziger Jahre tatsächlich war. Wie und mit welcher Radikalität der kapitalistische Medienverbund in den Lebenszusammenhang der Menschen eingreift, haben Negt/Kluge in dieser Studie mit einer atemberaubenden Präzision beschrieben und die heutigen Dimensionen der Medienmacht auch in ihren groben Zügen antizipiert. Die Hoffnungen jedoch, die in diesem Buch auf die Entfaltung einer "proletarischen Öffentlichkeit" gesetzt werden, haben sich wohl nur rudimentär erfüllt. Hier zeigt sich die Noblesse, aber auch die Ohnmacht linker Intellektualität, die den Menschen stets mehr zutraut als es die Verhältnisse gestatten.In die Zeit bis zum Erscheinen der großen Folgestudie Geschichte und Eigensinn fielen politisch vor allem jene "bleiernen Jahre" des Terrorismus und der staatlichen Repression, in die Negt mit vielen Aufsätzen und Reden für die politische Linke nach einem Ausweg zwischen "Solidarisierungsdruck und Bekenntniszwang" suchte. Mit vielen öffentlichen Reden setzte er sich scharf von der "revolutionären Gewaltstrategie" aus dem RAF-Umfeld ab.Die antizipierende Kraft der 1981 erschienenen zweiten großen Gemeinschaftsarbeit mit Alexander Kluge Geschichte und Eigensinn erwies sich erst ein gutes Jahrzehnt später, als nach dem Fall der Berliner Mauer auch die deutsche Linke gezwungen wurde, ihr Verhältnis zu Deutschland zu klären. Besonders das zweite Kapitel mit dem Titel "Deutschland als Produktionsöffentlichkeit", enthält Gedanken, die, rechtzeitig wahrgenommen, vielleicht die verhängnisvollsten Fehleinschätzungen der Folgen der deutsch-deutschen Vereinigung verhindert hätten. In den Denktraditionen und den politischen Verwandtschaften, auf die sich Oskar Negt mit seinen unermüdlichen Interventionen zum Lauf der Dinge bezieht, sind trotz vieler zeitabhängiger, heute auch antiquierter Positionen, Versprechen enthalten, die noch ihrer Einlösung harren. Wer sich, um zwei bei Oskar Negt immer wiederkehrenden Topoi zu zitieren, die "offene Neugierde eines Kindes nicht nehmen lässt" und "Vertrauen bei denen findet, die langsam lernen", bewegt sich leichter in der Welt.