Lippenstift: Von Joker über K-Pop bis Lipstick-Effekt
A-Z Dass wir in Krisenzeiten leben, spiegeln rasant steigende Lippenstiftverkäufe. Rot ist glamourös, und war immer auch politisch – von den Suffragetten bis zu den „Lipstick-Feminists“. Wirkt auch bei Männern. Unser Lexikon
Steht auch Männern, ob Joker oder K-Pop Idol – alt oder jung
Foto: Clara Nebeling/Connected Archives
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Action Es war Fasching in der Schule, ich wollte keine Prinzessin sein, höchstens Piratin. Am liebsten Punk. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf Punk gekommen bin, wahrscheinlich hatte ich mal einen auf dem Alex rumhängen sehen. Irgendwie cool. Ich nahm meine Ostjeans und malte mit Filzstift grüne und schwarze Karos drauf, dann schnitt ich Löcher rein. Die silbernen Schlangenohrringe machte ich mir aus Aluminiumdosen, den Irokesen mit Zuckerwasser. Schwarze Schminke war kein Problem, aber der Lippenstift! Ich hörte von der neuen „Action“-Serie aus Karl-Marx-Stadt, extra für die Jugend. Ich rannte zu dem kleinen Kosmetikladen hinter der Lichtenberger Brücke, als „Action“ dort verkauft wurde. Und stellte mich in die Schlange. Im S
Und stellte mich in die Schlange. Im Schaufenster sah ich den Blau-Metallic 72, und bekam ihn sogar. So war ich ein Jugendmode-VEB-Aerosol-Karl-Marx-Punk, praktisch ein Hilfspunk. Leider wusste beim Fasching keiner, was ich bin (➝ Schminkkoffer). Wie spießig! Maxi LeinkaufEErsatz Sex, Saufen, Fressen, Rauchen. Alles Bedürfnisse, denen mittlerweile mehr oder minder die zeitgenössische Erkenntnis des sinnvollen Verzichts für ein langes Leben anhängt. Konsum ist in unserem Spätkapitalismus zu einer Art Allroundbefriedigung avanciert. Wenn schon in vielschichtiger Weise asketisch lebend, dann darf das wenigstens durch die (leider nur kurzzeitige) Befriedigung des Kaufes von Lippenstift und allerlei anderen Schönheitsartikeln kompensiert werden. Und in Zeiten der wiederentflammten, schichtübergreifenden Vorzeigemonogamie muss auch der sexuelle Trieb des Menschen sinnvoll gelenkt werden. Thomas Fischer beschreibt es genial: Das Vortäuschen sexueller Verfügbarkeit. Man brezelt sich auf, ist dann aber gar nicht verfügbar, weil schon längst vergeben, und täuscht so etwas vor, was gar nicht zu haben ist. Jan C. Behmann GGodard Der rüpelhafte Engel Gabriel raunzt sie auf einem Parkplatz beim Einsteigen in den Wagen noch einmal an, hupt genervt, bis sie sich umdreht. „Sei gegrüßt, Maria“, schleudert er ihr entgegen. Eine Kirchenglocke läutet. Jetzt weiß sie, dass der Spuk vorbei ist. Als Erstes zündet sie sich eine Zigarette an, sinnt den Geschehnissen hinterher. Die unbefleckte Empfängnis, Josefs Eifersucht, der eigensinnige Junge, der immer wieder ausreißt, um sich um die „Geschäfte seines Vaters“ zu kümmern. Der ganze Stress mit der Keuschheit. Dazu der Chor aus der Matthäus-Passion. Wir setzen uns in Tränen nieder. Nun greift die gegrüßte Maria zum Lippenstift, führt ihn, zuerst noch zögernd, zum Mund, sagt sich, dass sie sich die Jungfräulichkeit nicht ausgesucht habe. Sie bemalt ihre Lippen. Das letzte Bild des Filmes zeigt ihren offenen, knallrot bemalten Mund. Sie ist nun Frau, ganz profan. Emanzipiert vom Gottesplan (➝ Zwiespalt). Godards Film Je vous salue, Marie! bewog noch Mitte der 80er Jahre katholische Fanatiker dazu, ein Kino anzuzünden, und Johannes Paul II. zündelte ebenfalls mit einer hilflosen Verdammung des Films. Marc Ottiker HHallyu Kein koreanisches Pop-Idol würde sich ohne Lippenstift erwischen lassen. In Interviews sprechen die jungen Männer häufig von ihrer Lieblingshautpflege und welches Make-up sie am liebsten tragen. Und nicht nur die Stars der Koreanischen Welle (Hallyu) machen sich schön: Ein gepflegtes und geschminktes Äußeres gehört in Südkorea zum Mannsein – wie einst im Rokoko in Europa. Der geschlechtsunabhängige Umgang mit Make-up hat aber wenig mit einer progressiven Einstellung zu tun – das Land wäre selbst Friedrich Merz zu konservativ und patriarchal. Die Gesellschaft ist schlicht besessen von Schönheit. Und, mal ehrlich, Männer sind einfach schöner mit vollen, samtigen Lippen. Alina Saha JJoker Am Joker, dem Bösewicht im Batman-Universum, haben sich Generationen von Schauspielern abgearbeitet. Tatsächlich geht die Figur auf eine Victor-Hugo-Verfilmung von 1928 zurück, in der Conrad Veidt The Man Who Laughs spielt, einen seit seiner Kindheit mit einem Dauergrinsen entstellten Adligen. Nur als geschminkter Monsterclown findet er ein Auskommen. Bereits in diesem Schwarz-Weiß-Film ahnt man die knallroten Lippen. Seit den 1960ern bis zu den düsteren Versionen der Gegenwart ziehen sich die roten Lippen des Jokers durch das Geschehen. Heath Ledgers sah mit seinen verschmierten Lippen wie ein Vetter von The Cures Robert Smith aus.MOKKrise Wenn in schwierigen Zeiten der Kauf von Lippenstiften nachweislich mächtig anzieht, dann ruft das die Forschung auf den Plan. Ökonomen sehen im „Lipstick-Effekt“ ein Warnzeichen. 2022 sind die Lippenstiftverkäufe um 16 Prozent gestiegen: der kleine Luxus, weil man sich den größeren nicht mehr leisten kann, so die Erklärung. Das war auch 2009 während der Finanzkrise so und in der Großen Depression. Frauen hätten in solchen Zeiten das Gefühl, die Zahl wirtschaftlich potenter Männer verringere sich und es bedürfe verstärkter Anstrengungen, solch einen zu gewinnen, so lautet das Ergebnis einer Studie aus den USA zum Lippenstift-Hamstern (➝ Zwiespalt). Kann sein, dass Krisen zu „geboostertem“ Knutschen verleiten. Aber mir waren Lippenstifte noch nie angenehm. Sind mir einfach zu ölig. Der Farbstoff wurde seit der Antike aus Läusen hergestellt (E 120 findet sich bis heute in einigen Lippenstiften). Magda GeislerLLipstick Traces Greil Marcus’ Klassiker Lipstick Traces lohnt – immer wieder – eine neuerliche Lektüre. Vor Kurzem ist das Buch aus dem Jahr 1989 im Mainzer Ventil-Verlag wiederveröffentlicht worden. Der 1945 in San Francisco geborene Kultur- und Rockmusikkritiker erzählt darin seine „geheime Geschichte des 20. Jahrhunderts“ noch einmal neu. Marcus zieht in diesem einflussreichen Werk eine Linie von den Häretikern des Mittelalters zu Dada, über den Situationismus bis zum Punk der Sex Pistols.Es ist ein Buch über künstlerische Rebellion im 20. Jahrhundert, den subkulturellen Underground, die Avantgarde eines ganzen Jahrhunderts. Dieser Stammbaum der Gegengeschichte, des Aufbegehrens endet hier mit den Sex Pistols. Aber es ist nicht nur ein Buch über Punk, es erzählt von Marx (➝ Action), Adorno, von Dada und von Traditionen. Und vom Verschwinden. Wie die Spuren eines Lippenstifts auf dem Filter einer Zigarette: Lipstick Traces. Marc Peschke NNackt Rote Lippen soll man küssen, sang Cliff Richard 1963. Meine Mutter war da 18 (➝ Ohrfeige), sie brauchte für ihre roten Lippen keinen Lippenstift. Geküsst wurde sie eh. Später legte sie sich dann irgendwann doch einen zu, aber benutzte ihn nicht. Irgendwann wurde er bestimmt ranzig, aber das bemerkte sie nicht, sie nahm ihn ja nicht. Ich besitze etliche Lippenstifte, mit der Benutzung ist das aber so eine Sache, mal finde ich die Farben dann doch doof, mal färbt der Stift an der Kleidung ab, mal schmiert er, und meistens habe ich es eh zu eilig, wenn ich aus dem Haus gehe, um mich zu schminken. Für mich hätte man den Nude Look, bei dem man sich so hinschminkt, als wäre man ungeschminkt, also gar nicht erst erfinden müssen. Beate TrögerOOhrfeige Das Foto gibt es vielleicht noch irgendwo, mit der unausgegorenen Kinderschrift darunter: „Ulrike als Dame“. Weißer Sommerstrohhut, weiße Tasche, viel zu große Stöckelschuhe und auf den Lippen das Knallrot, das ich ebenso aus den Beständen meiner Mutter hatte wie alles andere. Sie besaß nur ein oder zwei solcher damals recht teuren Utensilien, denn sie schminkte sich selten (➝ Nackt). Körpernäher als der Stift ging mir allerdings die Ohrfeige, die ich von ihr dafür empfing, dass ich das gute Stück während des zu heftigen Auftragens abgebrochen hatte. Vielleicht war es diese Erinnerung, vielleicht auch die politische Subkultur, in der ich nicht so viel später landete, dass ich mit dem Schminken nie mehr so viel am Hut hatte.Ulrike BaureithelSSchminkkoffer Wir feierten in Hamburg den Christopher Street Day. Unser Freund Harry hatte eine Kostüm- und Maskenbildnerin bestellt. Nachdem alle kostümiert und geschminkt waren, fiel ihr Blick auf das unscheinbare langhaarige Henna-Reh in der roten Latzhose. In ihrem unerschöpflichen Schminkkoffer fand sie die weiße Schleife, band sie mir in das noch volle hennagefärbte Haupthaar, gab den graublauen Augen mit wenigen Kajal-Strichen ungeahnte Tiefe und krönte ihre Schöpfung mit einem sehr entschlossenen Lippenstift, was mich in das Starlett dieses Tages verwandelte. Der Berliner Fotograf Rolf Fischer hat diesen Augenblick für eine vergängliche Ewigkeit festgehalten. Hans HüttTTödlich Ein Lippenstift kann gefährlicher als ein Revolver sein. Natürlich nur in den richtigen Händen. Baroness Carla Jenssen kannte sich aus. Die dänische Aristokratin schrieb nicht nur Spionagethriller, sondern war auch selbst für den britischen Secret Service tätig. Das behauptete sie zumindest in zahlreichen Interviews, die sie in den frühen 1930er Jahren amerikanischen Zeitungen gab. Ein Kuss genüge und das Gift im Lippenstift tue seine Wirkung, während die zarte Haut der Agentin durch reichlich Vaseline geschützt sei. Ein Trick, dem drei Jahrzehnte später auch Meisterspion Maxwell Smart in einer Folge der Fernsehserie Mini-Max beinahe zum Opfer fällt. Wenn es um Geheimdienste geht, sind Fakt und Fiktion kaum zu unterscheiden. Verbürgt ist hingegen die vom KGB benutzte Lippenstiftpistole, mit der sich ein Schuss abfeuern ließ. Ein Exemplar des zärtlich „Kiss of Death“ genannten Mordwerkzeugs wurde 2020 bei einer New Yorker Auktion angeboten. Der Schätzpreis lag um die 1.000 Dollar.Joachim FeldmannZZwiespalt In der britischen Erfolgsserie Sherlock nennt sie sich „die Frau“: Nur mit einem weinroten Lippenstift „bekleidet“, will Irene Adler (Lara Pulver) den berühmten Detektiv (Benedict Cumberbatch) ihrem Willen unterwerfen. Wobei Schminke ebenso weibliche Gefügigkeit signalisieren kann – viele Filme leben von diesem Klischee (➝ Krise). Oft war das Lippenrot als Botschaft an Männer gedacht. Seit im Jahr 1883 der erste Lippenstift auf der Weltausstellung in Amsterdam gezeigt wurde (wegen seiner phallusartigen Form anfangs „Saucisse“ genannt, „Würstchen“), ist er auch Symbol der Emanzipation. 1912 demonstrierten die Suffragetten in New York mit knallrot geschminkten Lippen für das Frauenwahlrecht. Dann die 20er der Girls. Und selbst ernannte „Lipstick-Feminists“ umarmen die traditionelle Weiblichkeit, um Frauen zu „empowern“. Irmtraud Gutschke
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