Literaturstreit

A–Z Zum Ärger vieler ordnete Denis Scheck kürzlich Christa Wolf in seinen „Anti-Kanon“ ein. Aber gehört der Eklat nicht zur Literatur wie Marcel Reich-Ranicki zum „Quartett“?
Ausgabe 30/2021

A

Abneigung Der Emigrant Thomas Mann bezog 1942 bei Los Angeles eine Villa mit 20 Zimmern. Der Emigrant Bertolt Brecht musste in gleicher Gegend mit einem deutlich bescheideneren Domizil vorliebnehmen. Umso mehr amüsierte ihn das großbürgerliche Repräsentationsgehabe des „Zauberers“, dem er in inniger Abneigung verbunden war. 1932 hatte Brecht in der Ballade von der Billigung der Welt einfließen lassen: „Der Dichter gibt uns seinen Zauberberg zu lesen / was er (für Geld) da spricht, ist gut gesprochen! / Was er (umsonst) verschweigt: die Wahrheit wär’s gewesen. Ich sag: Der Mann ist blind und nicht bestochen.“

Thomas Mann wiederum störten die betont plebejischen Attitüden Brechts, der sich revanchierte, wenn er in seinem Arbeitsjournal vom „Stehkragen“ schrieb. Auch empörte ihn die Hartherzigkeit, wie sie der Mann-Clan gegenüber Nelly Kröger, der als nicht standesgemäß empfundenen Frau Heinrich Manns („die Trulle“), walten ließ. Lutz Herden

C

Christa Wolf Die heftigen Reaktionen auf ihre Erzählung Was bleibt 1990 trafen sie ins Mark. Als Lieblingskind der Feuilletons im Westen hatte sie sich gefühlt, nun hatte der Wind sich gedreht. Vorbei mit dem Bonus für kritische DDR-Literatur (Hermlin). Im Gegenteil: Die Frage wurde laut, wie Schreibende in jenem Staat bleiben konnten, der nun durch den haarsträubenden Vergleich mit dem NS-Regime abgeurteilt war. Überall wurde mit scharfem Besen weggekehrt, was irgendwie an die DDR erinnerte. Christa Wolf hatte Monate zuvor noch den Appell „Für unser Land“ gegen den Beitritt zur BRD initiiert. Nicht nur im Osten haben sich damals viele mit der Autorin solidarisch gefühlt. Wie Denis Scheck jüngst im Fernsehen ihren feministischen Roman Kassandra vernichtete (Kanon), sollte eine Ermunterung zum Wiederlesen sein. Irmtraud Gutschke

H

Hermlin „Ich war nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der ich angehörte …“, schreibt Stephan Hermlin in Abendlicht aus dem Jahr 1979. Das schmale Büchlein wurde seinerzeit als Autobiografie gelesen. Eine solche Vita hatte kein anderer Dichter vorzuweisen: Als Rudolf Leder 1915 in eine reiche jüdische Familie hineingeboren, fand er schon früh den Weg zur KPD, nahm am kommunistischen Widerstand gegen Hitler teil, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und war dann auch noch Mitglied der französischen Résistance. Irgendwann soll er auch ins KZ Sachsenhausen gekommen sein, wo sein Vater gestorben sei.

Dann im Oktober 1996 der Skandal! Der Literaturkritiker Karl Corino veröffentlichte in der „Zeit“ ein Dossier über die Lügen Hermlins, dem es offenbar nicht gereicht hatte, in der Nazizeit Jude, Jungkommunist und Emigrant (➝Abneigung) gewesen zu sein. Corino wurde Antikommunismus und westdeutsche Arroganz vorgeworfen. Kollegin Iris Radisch sprang ihm bei: „Es gibt keine Menschenpflicht zur Wahrheit. Aber es gibt ein Menschenrecht, den Süßholzrasplern zu misstrauen.“ Karsten Krampitz

I

Identitätspolitik Es gibt viel Streit um „identitätspolitische“ Literatur. Prosa also, in der Gender, Race oder Klasse (Lehrerkinder) verhandelt wird. Das Anliegen gehe oft zulasten des Stils, was die Verlage zu oft nicht störe, solange sie ein „Buch der Stunde“ vermarkten können. Die Literaturkritik wiederum habe Beißhemmung, aus Gründen politischer Korrektheitund die Leser:innen affimierten vor allem den Inhalt. Die Düsseldorfer Schriftstellerin Mithu Sanyal, die den fulminanten Debütroman Identitti über eine Genderprofessorin schrieb, die Blackfacing betreibt, sagte einmal, sie würde sich freuen, bei einer Lesung einmal nur stilistische Fragen beantworten zu dürfen, nicht nur politische. Katharina Schmitz

K

Kanon Beim Wort „Kanon“, das aus dem Griechischen kommt und für „gerade Stange, Richtscheit, Lineal“ steht, werden viele an ein Musikstück denken, das durch versetzten Einsatz mehrerer Stimmen klangliche Fülle entfaltet. Klingt nicht auch der literarische Kanon, jenes veränderliche Korpus von ausgewählten Texten, denen zugetraut wird, ihre Zeit zu überdauern und der Überlieferung wert zu sein, in der Mehrstimmigkeit gut? Will ihn einer allein zur Aufführung bringen, sei es affirmativ als Kanon oder ablehnend als Anti-Kanon, umweht den Interpreten die Traurigkeit des einsamen Stehgeigers, mag er auch noch so auf die Pauke hauen. Beate Tröger

L

Lehrerkinder Wie satt ist die Gegenwartsliteratur? Drehen wir uns nur noch um einen bräsigen Mainstream? Bereits 2014 klagte der Hanser-Lektor Florian Kessler über die Lehrerkinder – gemeint waren die AutorInnen aus gutem Hause –, die an Schreibuniversitäten in Leipzig und Hildesheim vermeintlich lernen, gut Verdauliches für das große Publikum zu Papier zu bringen. Die Rede von der ach so faden modernen Prosa erscheint indes wie eine nie verderbliche Konserve, die sich immer wieder aufwärmen lässt.

So nun erneut vom Literaturwissenschaftler Moritz Baßler. Beklagt wird diesmal, dass die aktuellen Romane bloße Selbstbespiegelung (➝Identitätspolitik) leisten würden – zu wenig Alterität, zu viel Kitsch und Altbekanntes. Ist das so? Wer die Werke der jüngeren Generation von Dorothee Elmiger bis zu Ann Cotten liest, weiß: Die Wirklichkeit ist differenzierter, aber eben nicht so furoretauglich wie steile Thesen. Björn Hayer

Q

Querelle Besonders lebendig darf man sich den Beginn des Querelle des Anciens et des Modernes – des Streits zwischen den Alten und den Neuen – nicht vorstellen. Verursacht von einem kurzen französischen Gedicht in Alexandrinern von Charles Perrault, wird der Kult der Antike verweigert, die Kunst aus dem Himmel geholt, von „Menschen wie wir“ gesprochen. Da die Nachahmung der Antike zum Absolutismus in Versailles gehörte, hatte Perrault im 17. Jahrhundert alle Zeitgenossen gegen sich, von Jean de La Fontaine bis Jean Racine. Rasch war der Streit beendet. Perrault, der Märchenschreiber, verlor gegen die Bühne der Tragödie. Tragisch bleibt, dass der „Neue“, Perrault, die Kulturpolitik der Zeit nicht verstanden hatte und dass spätere Anhänger der Querelle, von Victor Hugo bis Nietzsche, keinen Widerspruch darin sahen, einen alten Streit zum neuen um das Neue zu machen. Die Querelle wurde zum zeitlosen Topos des Ringens um den poetischen Fortschritt. Eva Erdmann

R

Rechtslastig Bücher sind nicht nur Bücher, sondern auch Weltanschauungen, was manche zur Gesinnungsjagd animiert. Wo AutorInnen scheinbar Bedenkliches äußern, geraten sie ins Fadenkreuz. Selten treffen deren KritikerInnen, wie im Fall des durch neonationalistische Töne aufgefallenen Uwe Tellkamp, ins Schwarze. Schnell gelten dann schon mal Christian Kracht als Imperialist oder Simon Strauß und Monika Maron als VordenkerInnen einer neuen rechten Bewegung. Dass sich in ihren Werken zumeist kaum ideologische Spuren finden, veranschaulicht die Schieflage des Diskurses. Man muss deren Ansichten nicht teilen. Aber welche Bedeutung hat eine Meinungsfreiheit, die nur den Korridor der Political Correctness kennt? BH

S

Sendeschluss Wer heute Menschen erbittert streiten sehen will, braucht nur einen Twitter-Account. Vor etwa 20 Jahren ging das noch leichter. Im Literarischen Quartett ließ sich verlässlich aller paar Monate eine Zankerei beglotzen, zumindest in der Zeit, als noch das Enfant terrible der Literaturkritiker*innen zur Standardbesetzung gehörte.

Zur TV-Geschichte erstarrte der Moment, als Marcel Reich-Ranicki (Walser/Reich-Ranicki) im Sommer 2000 ausgerechnet einen Liebesroman, Gefährliche Geliebte von Haruki Murakami, verteidigte. Zuvor hatte seine Kollegin Sigrid Löffler dem Buch einen „Platzverweis“ ausstellen wollen, es habe „keine Sprache“. Beide rieben sich insbesondere an den Liebesszenen auf, die Löffler flach und Ranicki opulent fand. Es wurde persönlich, Löffler bescheinigte Ranicki eine Art Alterslüstigkeit, er wiederum sprach ihr die literarische Urteilskraft ab. Löffler verließ daraufhin das Quartett, was Ranicki später öffentlich begrüßte. Vertragen haben sich beide nie. Konstantin Nowotny

Sommerhaus, später Die Erwartungen waren riesig, 16 Jahre nach dem gefeierten Erzählband Sommerhaus, später erschien 2014 Judith Hermanns Debütroman Aller Liebe Anfang. „Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen“, lästerte Edo Reents in der FAZ. „Lethargischer Realismus“, urteilte Ijoma Mangold in der Zeit. Georg Diez schrieb im Spiegel, Hermanns Prosa sei „eine Art Sedativum für die gebildeten Stände“. Böse und allzu männlich war die Kritik (➝ Zürich), jedoch auch genüsslich zu lesen und zutreffend. Dem „Sound einer Generation“ (Hellmuth Karasek) blieb Hermann treu. Und für ihren Roman Daheim war sie für den Leipziger Buchpreis 2021 nominiert. KS

W

Walser/Reich-Ranicki Die Fehde zwischen Martin Walser und Marcel Reich-Ranicki geht weit zurück in die 1970er. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der heute die Gegenwart sämtliche Aspekte des Lebens heimsucht, eine graue Vorzeit. MRR verriss 1976 Jenseits der Liebe. Walsers ins Groteske kippende Kränkung vermochten auch spätere Lobeshymnen und selbst die Aufnahme von Selbstportrait als Kriminalroman in Ranickis Kanon der Erzählungennicht zu lindern.

Lob überfliege ein wahrer Schriftsteller, während der Verriss ganz genau gelesen werde, verzeichnete Martin Walser. 2002 holte er dann zum endgültigen Schlag aus. Mit einer Keule, als deren Opfer er sich in einer unrühmlichen Rede selbst sah, was eine frühe Form des „Sturmes aus Scheiße“ entfesselte. In Walsers Tod eines Kritikers wird vermeintlich ein Literaturkritiker umgebracht, sollen antisemitische Klischees wimmeln. MRR diagnostizierte „den kompletten Zusammenbruch eines Schriftstellers“. Der Rest ist Schweigen. Marc Ottiker

Z

Zürich Wer wie ich einmal Germanistik in der Schweiz studierte, konnte vielleicht Schillers Glocke nicht auswendig, sicher aber diesen Satz von Emil Staiger: „Wenn solche Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Verbrecher Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie?“ Staiger, der Kenner der Klassik (Kanon), nannte in seiner Rede zur Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich 1966 keine Namen, getroffen wurde die moderne Literatur in Gänze. Max Frisch antwortete ihm, der Zürcher Literaturstreit war da. Heute ist uns sein Furor fremd. Kloake ... wirklich? Wiederholt sich nicht gerade etwas von seiner verständnislosen Wut bei einer Literaturkritik, die den Rand der Texte, auf die sie sich setzt, vorsichtshalber mit dreilagigem Klopapier (recycelt) auslegt? Michael Angele

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