Lob der Rübe

Zuckerindustrie Lange geschützt, treiben sie die Osterweiterung und der Affe in die finale Krise

Friedrich Wilhelm III. von Preußen erhielt am 11. Januar 1799 ein ungewöhnliches Präsent: den ersten Zucker, der durch systematische Züchtung aus einer gewöhnlichen Runkelrübe (beta vulgaris) gewonnen worden war. Mit finanzieller Unterstützung des Herrschers war es dem Gelehrten Franz Karl Achard gelungen, die vom Berliner Chemiker Andreas Sigismund Marggraf in der Schrift Chemische Versuche zur Gewinnung des Zuckers dargestellte Methode ansatzweise in die Praxis umzusetzen. Unter unendlichen Mühen errichtete Achard auf dem völlig heruntergewirtschafteten Gut Kunert in Niederschlesien eine Rübenzuckerfabrik: Die unter fließendem Wasser gereinigten Früchte wurden von Maschinen zuerst in kleine Schnitzel zerhackt, zu einem Brei zermalen, dieser wurde in hydraulischen Pressen ausgequetscht, um den so gewonnen Saft mit verdünnter Luft einzudicken. 4.000 Doppelzentner Rüben lieferten 1802 auf diese Weise 160 Doppelzentner Rohzucker.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte ein spektakulärer Gründungsboom der Rübenindustrie ein, verbunden mit einem heißen Konkurrenzkampf gegen den Kolonialzucker. Im Zuge dieser Schlacht schlossen sich die Zuckerbarone zu einer der ersten Lobbys zusammen und errichteten ein auf der Symbiose von Fiskus und Industrie beruhendes protektionistisches System. So vor Konkurrenz geschützt, entwickelte sich der Rübenzuckeranbau schnell zum Vorreiter eines mechanisierten Agro-Business. Von einem kurzen Einbruch anlässlich der Erfindung des Saccharins abgesehen, stieg die Produktion im Deutschen Reich kontinuierlich von 203.000 Tonnen (1852) auf 9.695.000 (1935) an.

Zu diesem Zeitpunkt forcierte der braune "Reichsnährstand" den Anbau für die erwartete "Erzeugungsschlacht". Wie im Ersten Weltkrieg erwies sich die vom Vieh- zum Menschenfutter mutierte Runkelrübe auch im Zweiten Weltkrieg als kriegswirtschaftlich besonders nützlich. Als die Ernährungslage sich 1943 drastisch verschlechterte, startete der Völkische Beobachter eine eigene Artikelserie, um die Rübe populär zu machen. Journalisten mussten Probe-Essen absolvieren. Goebbels Propagandisten empfahlen "Wrucken" sogar als Suppe, als "geschätzte, vitaminreiche Frischkost, mit Zusatz von Zitronen in Salat" - und gesüßt als Müsli.

Die NS-Frauenschaft sorgte mittels Preisausschreiben für neue Rezepte: 300 Reichsmark erwarteten jede Parteigenossin, welche die "Schweinerüben" für die "vorzüglichste Herstellung innerhalb von Soßen, Laibchen, Mischgemüsen, Eintöpfen, Mehlspeisen" küchentauglich machen konnte. "Ich glaube an die Wrucke, die allgemeine Ernährerin des deutschen Volkes", lautet ein im Widerstand verbreitetes neues "Glaubensbekenntnis", dem das Oberkommando der Wehrmacht tatsächlich huldigte. Denn noch im Herbst 1944 wurden zahlreiche Soldaten des Ersatzheeres für "die Bergung der Hackfrucht und die Zuckerrübenkampagne" vom Militärdienst beurlaubt.

Nach 1945 vernetzte sich die Rüben-Lobby in Windeseile mit der CDU und konnte auf diese Weise selbst in der EU die Zuckerrüben-Marktordnung mit einem jährlichen Stützungsaufwand von 6,5 Millionen Euro erhalten. Erst seit 2004 stehen Quotenregelung, Außenschutz und Mindestpreise durch eine Reihe synchroner Entwicklungen ernsthaft in Frage. Denn die EU-Agrarreform bringt zwangsläufig drastische Einbrüche der bisherigen Stützungsfinanzierung mit sich: Zum einen wird die Prämienzahlung von der Produktion entkoppelt, zum anderen sind Dumping-Angebote aus dem Osten zu erwarten; auch Freihandelsabkommen setzen den Zuckermarkt zunehmend unter Druck.

Und noch ein weiteres Menetekel schwebt über der deutschen Rübe: Bisher haben ihre Produzenten allen Versuchen der amerikanischen Getränkeindustrie getrotzt, den Zuckerersatzstoff Isoglukose (Maissirup) in Soft-Drinks zuzulassen. Nun haben aber die französischen Anthropologen Marcel und Anette Hladik in Gabun bei Verhaltensstudien mit Affen rote Früchte entdeckt. Deren als Brazzein isolierter Süßstoff ist angeblich 1.000 Mal süßer als Zucker, erhitzbar sowie kalorienfrei. Angeblich schmeckt er sogar besser. Sollte es der Wissenschaft gelingen, dieses Brazzein in die DNA von Mais einzubauen, dann steht die traditionelle Zuckerindustrie global vor ihrer finalen Krise.


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