Loch

Künstlicher Blitz Ein Vorkriegsabend in der Berliner Wuhlheide

Es war ein seltsames Gefühl, als wir am 11. September die Regensachen anzogen und auch den dicken Pullover nicht vergaßen. Trotz der Ungewissheit eines drohenden Dritten Weltkrieges brachen wir zum Konzert von Radiohead auf. Alles war ganz normal. Sechsuhrabendverkehr. In der U-Bahn saßen die Leute auf ihren Sitzen mit stumpfen Gesichtern, lasen Zeitschriften oder Bücher. Schien es uns nur so oder konnte man die Mitfahrenden in Ahnungslose und die, die es nicht mehr sind, unterscheiden? Schauten sich vereinzelte BVG-Benutzer aufmerksamer um als sonst? Prüften sie die Augen der Gegenübersitzenden auf ein Zeichen, das sie als Mitwisser auswies? Blicke streiften sich öfter als üblich. Oder litten wir einfach an Wahrnehmungsverschärfung?

Es regnete in Strömen. Aus dem Wald an der Wuhlheide krochen die Menschen sternförmig zur zentralen Bühne. Nassgeregnet, traurig dreinblickend - sei es wegen der allgemeinen Weltlage oder doch nur wegen des schlechten Wetters - versammelten sie sich, um den verzweifelten Soundtrack zu einem verzweifelten Tag zu hören.

Ein Waldgottesdienst. Immer mehr Menschen zog es ins geheime Zentrum. Wie Pilzesammler oder Pilger kamen sie aus dem Unterholz und füllten die Sitze der tristen Freilichtbühne. Um die Zeit zu überbrücken, spielte das Anti-Pop-Consortium auf - ein paar DJ´s, die mit Rap die Oberflächen der Welt durchbrechen wollten. Das erste Bier hatte sich dank des Regens noch immer nicht weggetrunken. Da erhellte plötzlich ein künstlicher Blitz das Szenarium: Die erwartete Band war gelandet und richtete sich mit ihrem ersten Song an jeden einzelnen der losen Versammlung: "Everyone around here". Thom Yorke´s National Anthem stiftete für diesen Abend die Nation der friedlichen Radiohead-Enthusiasten: "Everyone has got fear". Yorkes Stimme, mal hauchend verzweifelt, mal wütend sich überschlagend drang in den Abendhimmel, drang ins Bewusstsein der 10.000 Lauschenden. Die ohnehin melancholischen und unheilschweren Lieder wurden wirklich. Umgekehrt wuchs die Ahnung mit jedem weiteren Lied: Etwas Unberechenbares kommt. Wir schienen in eine Spirale zu treiben. Zu Hause hatte man per Stereoanlage die Musik immer auf Abruf. Man konnte sich in Radioheads klagendem Klangkosmos ergötzen, um hinterher geläutert zu funktionieren. An diesem Abend stellte sich eine merkwürdige Hermetik ein: Innen und Außen waren eins geworden, wer hätte sich dieser zusammenschweißenden Paranoia entziehen können?

Nach dem, was heute passiert ist, sei er in keiner guten Stimmung, kommentierte Thom Yorke nach einer halben Stunde endlich die Situation: "Dazu gibt es einfach nichts mehr zu sagen." Dann widmete er einige Lieder der Bush-Regierung - möge sie sich den Auftakt zum Dritten Weltkrieg verbieten. Er sang Paranoid Android. Eigentlich speit der Song die Eindrücke einer verkorksten Kokain-Party aus. Hier passte er wunderbar, denn was er rüberbringt, ist undefinierbare Angst. Die beiden Mädchen hinter uns verabschiedeten sich schon mal von langfristigen Plänen.

Bei Idiotheke zappelte Thom Yorke wie ein Automat, dem die Sicherungen durchgebrannt sind: "Who is in a bunker? Women and children first". Der schmale Mann hängte sich in die Zeilen " I´ll laugh until my head comes off./ This is really happening". Und hatte damit wieder den Nerv getroffen: Etwas Absurdes war tatsächlich geschehen.

Eine der letzten Zugaben - Lucky - gab den Hinweis mit auf den Weg: "We are standing on the edge". Und es regnete immer noch. Anstatt zum Einschlafen noch ein wenig Radiohead zu hören, schalteten wir, kaum zu Hause angekommen, den Nachrichtensender ein.

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