Den seit Ostermontag viel diskutierten Empfehlungen der Leopoldina liegt keine Studie zugrunde, sondern es handelt sich um die ad hoc-Stellungnahme einer aus 26 Professor*innen bestehenden Arbeitsgruppe. „Ad hoc“ ist Latein und bedeutet soviel wie „spontan, ohne Vorbereitung“. Und das passt, denn die Stellungnahme liest sich teilweise, als wären es zusammengetackerte Meinungsäußerungen von selbsternannten Facebook-Corona-Experten – seltsam detailliert, selten gut begründet und oft unlogisch.
Die Wissenschaftsakademie will „Die Krise nachhaltig überwinden“, so zumindest der Titel der Stellungnahme. Nachhaltig klingt gut, ist aber vielleicht etwas viel versprochen, wenn noch nicht einmal der Peak der Infektionen abzusehen ist, also leider noch völlig unklar bleibt, wie schlimm die Krise welche gesellschaftlichen Bereiche treffen wird.
Ein für alle sehr frustrierender Faktor der jetzigen Situation ist das geringe Wissen über das Virus, die genauen Ansteckungswege und Krankheitsverläufe. Die mangelnden Testkapazitäten und die sehr unterschiedlichen Gesundheitssysteme in anderen Ländern erschweren die Vergleichbarkeit und damit eine gute Situationseinschätzung und Prognose. Gerade für Wissenschaftler*innen ist es unbefriedigend, halbwegs zutreffende Daten über die Infektionshöhe immer erst zwei Wochen später zu erhalten. Die Leopoldina reagiert auf diese Situation wie ein Kleinkind, das sich auf den Boden wirft und „ich will aber“ schreit: mehr Tests, mehr Daten, mehr Studien, Bewegungstracking, schnellere und realistischere Modellierungen. Man meint im Hintergrund das Gerangel der Lehrstühle und Universitäten um lukrative Forschungsaufträge zu hören.
Feuchte Datenträume
Und was sollte man in der jetzigen Situation mit „tagesaktuell und regional hochaufgelösten Vorhersagen“ anfangen? In Berlin-Neukölln den Baumarkt am Mittwoch zumachen, in Dresden-Neustadt dafür nächste Woche schon wieder Tische vor die Cafés? Interessant ist auch, was in den Empfehlungen nicht vorkommt: Beispielsweise die Frage der eingeflogenen Erntehelfer*innen, die in einer Pseudo-Quarantäne zu Hungerlöhnen „unseren“ Spargel stechen dürfen, oder die Frage der Grenzschließungen und der in den Lagern festsitzenden Geflüchteten. Bezeichnenderweise wird die europäische Situation nur in Bezug auf Wirtschaftsfragen erwähnt, und auch da wird der Ruf nach einer europäischen Solidarität ungeschminkt mit den Bedürfnissen der Exportnation Deutschland untermauert.
Die Arbeitsgruppe besteht aus 23 weißen Professoren, zwei weißen Professorinnen und einem nichtweißen Professor. Besonders absurd wirkt vor diesem Hintergrund ihre eigene Forderung, vielfältige Perspektiven in die Abwägungsprozesse einzubeziehen. Zwar kommt etwa in der Mitte des Dokumentes die Feststellung vor, dass die „zusätzlichen Belastungen“ vor allem Frauen treffen (gemeint ist Kinderbetreuung und andere Reproduktionsarbeit), auch werden die Zunahme häuslicher Gewalt und psychischer Erkrankungen mehrfach als Probleme erwähnt. Wie hier eine Entlastung über Telefonhotlines hinaus aussehen kann, bleibt aber unklar. Die Leopoldina kann sich zu keinem einzigen Vorschlag durchringen, der besonders vulnerable Gruppen entlasten, dafür die Wirtschaft belasten oder das gesellschaftliche Funktionieren möglicherweise weiter einschränken würde. Die kritische Diskussion des Papiers könnte der Beginn einer Debatte sein, die uns im weiteren Verlauf der Corona-Pandemie begleiten wird: Wer hat während und nach der Krise Priorität?
Kommentare 9
Marktradikaler Furor at his Best. Was sich unter anderem auch dadurch beweist, dass der oberste Faktenchecker der ARD, der sonst eher auf den rechten Rand kaprizierte Patrick Gensing, für das Institut eine Bresche schlägt. Desgleichen – ebenfalls tagesschau.de – Christopher Jähnert. Am ersten Artikel finde ich zwei Dinge bemerkenswert: a) dass auch Gensing bei seinem »Faktencheck« nicht umhinkommt, die Krankenhausschließ-Empfehlung von anno 2016 so getätigte Aussage hinzustellen (im Hauptteil seines Textes versucht er eben nur, das fragliche Papier als harmlos und die Überlegungen dahinter als reputabel hinzustellen). b) dass auch explizit anti-rechte Journalisten dann, wenn ein gewisses Kontingent Karrierstufen genommen ist, plötzlich anfangen, (auch) gegen links zu schießen. Denke aus dem Grund, dass hier klar Spins von oberster Stelle mit im Spiel sind – respektive der Leopoldina als regierungsseitigem Expertenpool mit der Brechstange eine maßgebliche Position in der aktuellen Diskussion um Lösungswege zugeschanzt werden soll (nach dem Motto: »Diese Herren sind neoliberal genug – da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.«)
Ansonsten: »Harmlos« oder (in einem sozialen Sinn) reputabel waren die Vorschläge von 2016 mitnichten. Die Grundessenz des seinerzeitigen Papiers – eine Konzentrierung der Kliniken, verbunden mit Aufrüstung im medizinischen High-Tech-Bereich – hätte egal mit welcher gutmeinenden Motivation eine weitere Verödung der medizinischen Versorgung in ländlichen sowie sonstwie peripheren Regionen zur Folge. Zumindest kann man dem Papier unterstellen, dass einseitig eine bestimmte Form von Medizin favorisiert wird zu Lasten anderer niedrigschwelligerer und nachbarschaftsorientierterer. Suspekt ist darüber hinaus die Finanzierungschose. Wenn man die neoliberale Gesundheitswesen-Sparerei nicht kritisiert beziehungsweise sogar gut findet, müssen die Mittel, die an einer Stelle zugeführt werden, woanders eben abgezogen werden.
Nunmehr ist die Akademie also auf (regierungsnahes) Expertentum in Sachen Corona umgesattelt. Zum aktuellen Papier (hier als PDF): Viele der gemachten Vorschläge sind Allgemeinplätze, die sich grosso modo im Mainstream der aktuellen Diskussion bewegen. Allerdings finden sich auch in dem »Corona-Papier« Passagen, die klar in die marktradikale Richtung gehen – etwa, wenn davor gewarnt wird, malade gewordene Unternehmen zu verstaatlichen, oder Steuererleichterungen als Weg zum Wiederaufbau der Wirtschaft vorgeschlagen werden.
Fazit: Dem IFO-Institut scheint es schlecht zu gehen. Was die »Neuen« zur Krise verfassen, hätte jedenfalls eins-zu-eins von denen verfasst werden können.
Werte Kirsten Achtelik,
Ihr kritischer Text ist berechtigt, hätte aber durchaus und gern noch schärfer und präziser sein dürfen.
Lustigerweise ist mir- kurz BEVOR Sie Ihr Blog hier veröffentlichten - ein anderer Beitrag von Ihnen "ins Netz" gegangen:
https://gen-ethisches-netzwerk.de/reprotechnologien/250/lobby-fuer-liberalisierung
Wenn also die Leopoldina, wie Sie es (m.M.n.) dort richtig erfassten, (auch) Lobbyarbeit betreibt, ist deren gestern veröffentlichte "ad hoc"- Stellungnahme noch mal mit ganz anderen Augen zu lesen.
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Ein paar Unis habe ich ja auch kennenlernen dürfen, aber ich muss gestehen: „Die Leopoldina“ war mir kein Begriff (damit scheine ich ein sensationelles Alleinstellungsmerkmal mein Eigen nennen zu dürfen).
Und nach der Stellungnahme der Akademie und deren Gewichtung im medialen Raum dachte ich: Ist das eine Zweigstelle der Bertelsmann-Stiftung?
»Vermutlich ist das Papier eine Auftragsarbeit. Die Bundeskanzlerin hatte im Vorfeld der Veröffentlichung erklärt, ein wichtiger Anhaltspunkt werde ein Gutachten der Akademie der Wissenschaften Leopoldina sein. Ungeklärt bleibt, warum der Auftrag an Leopoldina so spät erfolgte und wo eigentlich die bisherigen „Experten“ – von Drosten bis RKI – geblieben sind. Auch einschlägige Medien tun so, als hätte es diese gar nicht gegeben.«
Gerne gelesen, danke.
Die Frage ist doch, warum Frau Merkel überhaupt so ein Gutachten in Auftrag gibt.
Vertraut sie ihren Ministerien nicht, daß es so ein live-and-let-die-Papier braucht?
jetzt kommen die ehrgeizigen experten an die front!
der -->gewalthaufen der politiker bleibt im hintergrund
und läßt die wissenschaftler-->plänkeln.
Der Lackmustest für Merkels Corona-Strategie ist ohnehin das Ruhrgebiet und die Rheinschiene als größtes Ballungszentrum Europas. Und wenn ich so sehe, wie lässig unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund das social distancing händeln...
Ich denke, es ist nicht vermessen den Bestattungsinstituten im Ruhrgebiet ein gutes Geschäft vorauszusagen.