Ich stehe überwältigt vor einem unendlich langen Regal voller Gesichtscremes im Drogeriemarkt. Aneinandergereiht sind Inhaltsstoffe wie Olivenöl, Hyaluron, Q10, Retinol. Jedes Mal das Versprechen, dass ich mit der ein oder anderen Marke jünger und makelloser erscheine. Auf Anraten der Verkäuferin greife ich schließlich nach einer Kombi aus Serum, Öl und Intensiv-Nachtcreme.
Ich bin Diversity-Trainer*in und stehe am nächsten Tag vor den Teilnehmer*-innen meines Workshops. Ihre Arbeitgeber (Gendern funktioniert an dieser Stelle leider selten in Deutschland) haben sie zur Teilnahme verpflichtet. Ich bespreche mit den Teilnehmer*innen die unterschiedlichen Diversity-Kategorien und sage: „Diversity ist mehr, als es Heidi Klum mit ihrer Germany’
Germany’s-Next-Top-Model-Sendung verspricht.“Marketing sei DankJede Kategorie für sich oder in der Überschneidung mit anderen Kategorien bestimmt die soziale Positionierung der einzelnen Person und bestimmt über die Privilegien/Deprivilegien, die diese Person in unserer Gesellschaft erfährt. Zu meiner Überraschung ist es auch in diesem Workshop so, dass die Teilnehmer*innen auf die Diskriminierungsarten Lookismus (Diskriminierung aufgrund des Erscheinungsbildes), Bodyismus (Diskriminierung aufgrund der körperlichen Verfassung) ungleich stärker reagieren. Scheinbar kennen die allermeisten Teilnehmer*innen des Workshops das Gefühl ziemlich gut, aufgrund ihrer Körperlichkeit und ihres Aussehens mal mehr, mal weniger gut oder schlecht behandelt worden zu sein. „Klar“, sagt die eine Teilnehmerin, „würden wir das Gefühl haben, vollkommen zu sein, dann würden wir die Strapazen nicht auf uns nehmen, uns zu optimieren.“Das stimmt. Das kapitalistische System, das wir auf verschiedenartige Weise verinnerlicht haben, verführt uns dazu, zu glauben, dass wir uns optimieren könnten. Marketing sei Dank.Nach dem Workshop belohne ich mich übrigens mit einem neuen Outfit in der Augsburger Innenstadt. Statt Olivenöl und Retinol kann ich in einem Shop einer Textilkette über Bio-Baumwolle in den vielfältigsten Variationen entscheiden. Aber auch damit werde ich mit 40 Jahren wohl kein Gemany’s next Topmodel mehr. Dennoch: Mit dem Hagebuttenöl eines Start-up-Unternehmens habe ich zumindest das Gefühl, dass ich an „orientalische“ Traditionen meiner Vorfahr*innen anknüpfen kann, länger jung ausschaue, mich sicherer in meiner Arbeit fühle.Und, ganz wichtig: Das Start-up-Unternehmen verspricht, dass mit jedem Kauf des Hagebuttenöls ein Euro an die Ukraine gespendet wird. Nach dem Mizellen-Gesichtswasser trage ich es sorgfältig aufs Gesicht auf und klopfe mir mit der hochwertigen Sonnencreme (LSF 50) die Schuldgefühle weg.Hauptsache, ich schaue gut ausIn der Ukraine herrscht seit etwa drei Monaten Krieg, in Syrien länger, Jemen hatte ich zu meiner Schande nie so wirklich auf dem Schirm. Das schlechte Gewissen klopfe ich mir weg. Fest in die Poren rein. Hauptsache, ich schaue gut aus. Schön genug, um mich beim nächsten Diversity-Workshop, den ich in ein paar Tagen geben werde, selbstsicherer zu fühlen. Hoffe ich.Spätestens beim nächsten Workshop, als ich mit den Teilnehmenden „Diskriminierung“ thematisiere, merke ich, wie ich mich allmählich unoptimierter in meinem von Intervallfasten geplagten Körper fühle. Mein Luxusparfüm und die als hochwertig angepriesene Gesichtscreme, die ich mir in der Früh aufs Gesicht geklopft habe, tragen nicht wirklich zu einem Mehr an Selbstbewusstsein bei. Und auch das Fitness-Studio hat zwar mein Bäuchlein reduziert, aber nicht die Hoffnung auf die eingebildete Selbstoptimierung.Placeholder authorbio-1