Hermann Hesse ist ein Phänomen. Vierzig Jahre nach seinem Tod finden seine Bücher noch immer erstaunlichen Absatz, begeistern sie Pubertierende mit ihrem romantischen Zauber. In einer Hitparade der Lieblingsbücher hat das Publikum des Schweizer TV-Literaturclubs den Steppenwolf auf Platz zwei gesetzt, nach Frischs Stiller und vor Camus´ Der Fremde. Die Hesse-Formel "Narziss und Goldmund", das heißt Spiritualität und Unruhe, scheint ungebrochen attraktiv. Doch bei wem? In literarischen Kreisen genießt Hesse keine Reputation. Darauf angesprochen macht sich vielmehr Ratlosigkeit, oft gar Ärger bemerkbar. Hesse wird hier ebenso leichtfertig wie hämisch als pubertäre Verirrung, als schwülstiger Kitsch abgetan. Er ist längst ein wohlfei
etan. Er ist längst ein wohlfeiles Opfer für germanistischen Dünkel, der ihm vor allem den Publikumserfolg nicht verzeiht. Allerdings wird auch dem wohl meinenden Leser die Neulektüre seiner Bücher nicht eben leicht gemacht. Narziss und Goldmund etwa steckt voll von schwer verdaulichen Sätzen. Unvergesslich etwa ist die Szene, in der Goldmund die um ihren ermordeten Vater trauernde Rebekka bekniet: "Lass uns vorher noch leben und lieb miteinander sein. Ach du, es wäre so schade um deinen weißen Hals und um deinen kleinen Fuß!" Hermann Hesse war gewiss ein höchst mittelmäßiger Autor, der es allerdings verstand, aus eigenem Erleben eine existentielle Unbehaustheit in Geschichten zu fassen. Diese sind, etwa im Steppenwolf, durch ihre ideelle und typisierte Konstruktion leicht zugänglich und fordern zur Identifikation auf. Die in ihnen angelegte Sehnsucht nach spiritueller Führung indes besitzt eine sehr problematische Kehrseite in Form von Führerphantasien und Sendungsbewusstsein, wie Hesse sie explizit in Die Morgenlandfahrt und vor allem im Glasperlenspiel entwickelte: ein beglückendes "Gefühl der Einigkeit und des gemeinsamen Zieles". Gefährliche Phantasien vor dem Hintergrund der 30er und 40er Jahre. An Hesses pazifistischer wie antifaschistischer Haltung ist zwar nicht zu zweifeln, ebenso wenig allerdings an seiner politischen Hilflosigkeit. Gerade deswegen wurde er von der antiautoritären Hippiebewegung in den 60er Jahren begeistert neu entdeckt. Die Lektüre passte wunderbar zur naiven Glückseligkeit, Hesse-Bücher und LSD-Trips stillen gemeinsam den spirituellen Hunger: Lucy in the sky with Siddharta im Gepäck. Mit einem Wort von Timothy Leary: "Hesse ist der Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis". Er ist also nicht leicht zu retten - es sei denn, seine charismatische Persönlichkeit gerät in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ihr sind viele erlegen. Gerhard Roth lässt sich noch heute nicht zu Schmähreden auf Hesse hinreißen, weil in seiner Erinnerung die vergangenen Leseeindrücke nachhallen. Wie ihm ergeht es manchen. Lag unter dem Christbaum nicht diese blaue Hesse-Ausgabe in zwölf Bänden und fachte das Feuer für die Literatur an? Auch mir erfüllten die Eltern damit einst einen sehnlichsten Wunsch. Den Anfang allerdings hatte etwas früher schon eine Taschenbuch-Ausgabe der Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen gemacht, die ich verlassen in einem Zugabteil fand. Vom Decamerone und dem Riesen Gargantua bis Dostojewskis Karamasows oder Arno Schmidts Leviathan hat Hesse mir zur Lektüre empfohlen, was mir später lieb und teuer werden sollte. Dass mir deswegen auch Hesses eigene Prosa zu Herzen ging, ist verständlich. Doch als Kern der fiebrigen Begeisterung haben sich vor allem diese Aufsätze erwiesen, die dem Pubertierenden das Tor zur Literatur weit aufstießen. Allmählich vertrieb deren frischer Wind die Nebel der Befangenheit wieder - Arno Schmidt war einfach besser. Dennoch hat Hesse bei mir ein gutes Werk getan - glaube ich. Am Schluss des besagten Buches heißt es über eine aktuelle Neuerscheinung: "Es gibt in der neuesten deutschen Literatur sehr wenige Werke von ähnlicher Stärke, und dass wir beide nun Autoren des gleichen Verlags sind, freut mich." Die direkte Anrede deutet an, dass es sich dabei nicht um eine Rezension, sondern um ein Briefzitat handelt. Es bezieht sich auf Abschied von den Eltern (1961). Mit diesem Buch hatte Peter Weiss eben einen beachtlichen Erfolg erzielt und war so für seine lange Suche nach literarischer Aufmerksamkeit belohnt worden. Der, der ihn auf diesem Weg begleitete, war niemand anderer als Hermann Hesse. "Er wird für mich immer lebendig sein, so wie mir seine Bücher immer lebendig und gegenwärtig sind", schrieb Weiss kurz nach Hesses Tod 1962 an dessen Frau Ninon. Derselbe Weiss, der drei Jahre später unmissverständlich festhalten wird: "Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit" - er trägt den Hesse immer mit sich im Gepäck. Auch Weiss war ein "Opfer" der Persönlichkeit Hesses: des begeisternden Vermittlers, des vitalen Außenseiters und Kosmopoliten, des Totalkünstlers, der wie Weiss selbst ein ewig Umhergetriebener blieb. Aus dem tschechischen Warnsdorf, wohin die Familie Weiss vertrieben wurde, schrieb der 20-jährige Peter in einer Mischung aus Verzweiflung und ungelenkem Mut anfangs 1937 an sein Idol: "Obgleich ich weiß, dass viele junge Menschen Sie mit Briefen und Manuskripten überschütten, um Rat oder Hilfe von Ihnen zu erhalten, und Sie deshalb mit Post und allerlei Geschreibsel im Übermass bedacht sind, wage ich es, Sie auch mit meiner Sendung zu beglücken." Der junge Dichter - "ein Ihnen fremder, ferner Mensch" - klagte dem verehrten Dichter sein Unglück und seine Einsamkeit und garnierte die Klage mit Kostproben aus dem juvenilen Literatur- und Kunstschaffen. Andere hatten es ihm vorgemacht, Hesse erhielt viele solcher Briefe, wofür er schon 1910 einen Standardbrief an junge Dichter veröffentlichte. Doch Weiss sollte eine persönliche Antwort erhalten, in der Hesse mit dem jungen Künstler "gut gemeint" ins Gericht ging. Weit wichtiger aber spiegelte Hesse die romantische Sehnsucht zurück: "Die Romantik, die Sie meinen, ist auch mir bekannt und lieb, doch kann ich aus Ihren Versuchen noch nicht recht erkennen, was Ihnen einmal möglich sein wird." Damit war ein kritischer, doch hoffnungsfroh stimmender Anfang gesetzt und bald schon sollte die Beziehung persönliche Züge annehmen. Weiss kündigte in einem Brief an, dass er die Arbeitsproben eigenhändig in Montagnola abholen möchte, was im Spätsommer geschah. Mehr noch: auf Hesses Fürsprache hin durfte Weiss in der Casa Camuzzi, in Klingsors Arbeitszimmer gewissermassen, ein paar Wochen verweilen und arbeiten. Zudem setzte Hesse sich bei seinem Freund Willi Nowak in Prag für den jungen Künstler ein, dass er ein Lehrjahr an der Kunstakademie absolvieren konnte. In vergleichbarer Weise hatte sich Hesse immer wieder für Kollegen eingesetzt, speziell auch für jene, die vor den Nazis in die Schweiz geflüchtet waren. Er versuchte Robert Musil oder Albert Ehrenstein beizustehen. Und als die Schweizer Fremdenpolizei 1938 das berüchtigte "J" in die Pässe von jüdischen Deutschen stempelte, protestierte Hesse beim dafür verantwortlichen Amtschef persönlich und warnte vor der Gefahr, dass "eine autoritäre Gewaltmaschinerie ohne Kritik und ohne Hemmungen" in Gang gesetzt würde. Er sollte erfolglos Recht behalten. Peter Weiss wiederholte die Reise 1938 in Begleitung von Robert Jungk und Hermann Levin-Goldschmidt. Zu dritt pilgerten sie - Angehörige des Bundes der "Morgenlandfahrer" - nach Montagnola. Weiss blieb und verbrachte weitere vier Monate in Hesses Umgebung. Der Lehrling fand im "verehrten großen Zauberer" einen väterlichen Mentor und ein Vorbild, dessen poetische "Sendung" auch die seine sein sollte. Mit ihm war auch er Teil "im ewigen Strom der Seele, im ewigen Heimwärtsstreben der Geister nach Morgen, nach der Heimat", wie es in der "Morgenlandfahrt" heißt. Weiss fühlte sich aufgehoben im Ideal des leidenden, reinen Künstlers, in der romantischen Sendung erkannte er ein Identifikationsangebot, mit dem sich Zweifel und Ängste verdrängen ließen. Dies war ganz und gar von Hesse abgeschaut. Im Mai 1938 schrieb dieser an den jugendlichen Fan: "Außer dem Sichzurückziehen in den magischen Raum seiner Arbeit gibt es für unsereinen keine Zuflucht in dieser hässlich gewordenen Welt." Dieser Brief lässt erahnen, was den verzagenden, oft kränkelnden Hesse zum jungen Weiss hinzog. "Sie haben recht, für einen jungen Künstler ist die Welt heut feindseliger als je; aber für einen alten Künstler, der am Ende eines arbeitsamen Lebens zum alten Gerümpel geworfen wird und wieder alle Sorgen der frühern Jahre spüren muss, ist es auch nicht hübsch." So wie Weiss sich nach dem Vorbild des Meisters in der Kunst befreien wollte, so vergaß Hesse im Kontakt mit dem Jüngeren für Augenblicke sein zunehmendes Alter. Weiss hat seine romantische Beseeligung überwunden, Hesse gab ihm dazu einen väterlichen Anstoß. Dies sei ihm nicht vergessen. Als Förderer lebt Hesse heute weiter. Indem sich seine Bücher bestens verkaufen, erlauben sie dem Suhrkamp Verlag, aus ihren Einnahmen jüngere AutorInnen zu subventionieren. Soll er nicht geliebt werden, so verdient er dafür wenigstens Respekt und nicht billige Häme.
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