Jedes Jahr ist es das gleiche Bild: in Sonntagsanzüge gekleidet, wandert die versammelte Familie zum Friedhof. Vorbei an Kolonnen von Autos, die den Wegrand säumen, weil die Parkplätze überquellen; vorbei an Blumen- und Kerzenverkäufern, die das Geschäft des Jahres machen; vorbei an unzähligen anderen Familien, die die engen Friedhofswege verstopfen. Es ist Allerheiligen in Polen, das ganze Land macht sich auf den Weg.
Dass Allerheiligen in Polen zu den wichtigsten religiösen Feiertagen gehört, erkennt der Außenstehende schon daran, dass an diesem Tag wirklich kaum ein Geschäft geöffnet hat - was in diesem Land, das dem Turbokapitalismus huldigt, selten geschieht. Die Polizei macht jedes Jahr bereits Wochen zuvor mobil. Auf den Radiosendern häufen sich die Verkehrsmeldungen, denn die Friedhöfe liegen oft an den Rändern der Städte und die meisten Familien reisen ohnedies mit dem Auto an. Die Tage um den ersten November gehören zu den gefährlichsten auf Polens Straßen - besonders wenn Allerheiligen auf ein Wochenende fällt.
"Guten Tag", "Hallo", "Wie lang haben wir uns schon nicht mehr gesehen!" - Tanten und Onkels, Cousins und Familienangehörige nicht identifizierbarer Verwandtschaftsgrade, Menschen, die ich an anderen Tagen im Jahr nie zu Gesicht bekomme, an deren Namen ich mich nicht auf Anhieb erinnern kann - sie alle stehen schon da. Am Breslauer Familiengrab. Oma und Opa sind hier seit einigen Jahren wieder vereint. Der Opa, der mich Soldatenlieder singen ließ, als ich klein war und der immer die Worte einer Großtante zum Besten gab, sie wolle über ihrem Mann begraben liegen, weil sie - als Mutter von 16 Kindern - zuvor immer unten gewesen sei. Opa, der "Fremdarbeiter" in Bayern war und später im piastischen Wroclaw polnischer Pionier.
Meine Geburtstadt Breslau hatte kein Glück mit ihren Friedhöfen. Kaum ein alter Friedhof, zumal kein evangelischer, hat die Belagerung 1945, die mutwilligen Zerstörungen der Nachkriegszeit, die Einebnungen wegen Straßenerweiterungen in den sechziger und siebziger Jahren überstanden. Doch auch ohne diese Verwüstungen wären die Grabsteine nach 25 Jahren abgeräumt worden. Weil das Recht es so vorschreibt, wenn niemand mehr pünktlich die Friedhofsgebühren bezahlt und keiner mehr die Gräber pflegt. Und wer hätte sich kümmern sollen? Wenn die Verwandten tot oder im fernen Westdeutschland waren ... . Der "neue" jüdische Friedhof wurde, wie viele andere auch, schon von den Nazis eingeebnet. Vermutlich hat man die Platten für den Straßenbau genutzt - noch heute findet man im ganzen Land zufällig Grabsteine mit jüdischen Inschriften, wie ein Memento, das sich unverhofft ins Gedächtnis ruft. Und nur durch ein Wunder hat Breslaus alter jüdischer Friedhof den Krieg überlebt - in den achtziger Jahren rettete ihn der spätere Direktor des Stadtgeschichtsmuseums vor dem endgültigen Verfall.
Manchmal, wenn auch seltener am ersten November, reisen wir in den Geburtsort meiner Mutter. Dann strömt die Familie zur Ruhestätte des anderen Großvaters. Zu Opa, der ein schweigsamer Landwirt war, der im zweiten Weltkrieg, eben aus dem Kriegsgefangenenlager an der holländischen Grenze befreit, direkt zu den polnischen Streitkräften im Westen gegangen war, der in Zeiten des Hochstalinismus jedes Jahr vor dem 1. Mai verhaftet wurde, weil er ja der falschen Armee angehört hatte und im Verdacht stand, ein "Troublemaker" zu sein. So jedenfalls erzählt es meine Mutter, zu Allerheiligen, am Grab.
Friedhöfe sind Orte der Gemeinschaft. Indem man das Grab der Vorfahren besucht, erinnert man sich seiner Wurzeln, seiner Herkunft, seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort. In einer Nation, die wie kaum eine andere im letzten Jahrhundert hin und her geschoben wurde, ist Zugehörigkeit ein wichtiger Begriff. Im Westen des Landes findet sich kaum eine Familie, die behaupten kann, ihre Wurzeln seien seit mehr als zweioder drei Generationen an dem Ort, in dem sie heute wohnen. Friedhöfe sind Orte, die die Bindung der Menschen an ihre Stadt manifestieren. In Städten, in denen die Bewohner sich zu Hause fühlen, sind auch die Friedhöfe gepflegt. Ein Friedhof, auf dem man jemanden begraben hat, ist eine Luftwurzel, eine Nabelschnur. Ein Grab ist ein Grund, wieder zu kommen oder sogar zu bleiben. Nicht selten hört man von älteren Leuten, sie könnten nicht aus ihrer Stadt, weil sonst niemand bliebe, der sich um die Gräber kümmert.
In diesem Jahr verbringe ich den ersten November in Berlin. Aber - es ist Alltag. Ein Herbsttag wie die anderen auch. Wessen Grab sollte ich besuchen? In einer Hinsicht ist Berlin ein wenig wie Polen. Alteingesessene gibt es kaum. Familiengräber sind oft ohne Familie geblieben. Nur dass kein Ritual die verstreuten Verwandten zu den entfernten Gräbern treibt. Kein Land macht sich auf den Weg, so dass, ob der kollektiven Bewegung, der Verkehr zusammenbricht. In Berlin werden Rituale der Gemeinschaft an der Fanmeile begangen. Auf den Gärten der Toten bleibt es zu Allerheiligen still. Manchmal, an warmen Tagen, gehe ich mit meiner Tochter über den Friedhof am Plötzensee. An Efeubewachsenen Gräbern lagern zwanglos sich sonnende. Das umzäunte Gelände mit den Schildern "Friedhofsgelände" begreifen sie als grüne Oase in der steinernen Stadt. Was kümmert es mich? Möchte ich hier begraben werden? Wer würde mein Grab einmal pflegen?
Friedhöfe zeigen Bindungen an einen Ort, sie spiegeln Verantwortung für ihn - und symbolisieren auch Macht. Nicht allein materielle Macht, die durch prunkvollen Grabschmuck zur Schau getragen wird. Auf Friedhöfen wird das Gedächtnis in Besitz genommen. So werden Friedhöfe fast immer zum Opfer von Kriegen. Beherbergen sie die Überreste einer fremden, besiegten oder vertriebenen Ethnie, gehören sie bald zu den verwahrlosesten Plätzen einer neu besiedelten Stadt. Die Gebeine der "Fremden" entfernt man aus den Grüften, um frisch Gefallenen Platz zu machen. Mitunter braucht man noch heute etwas Mut, wenn man auf den nur noch zu erahnenden Gräbern von Deutschen in Westpolen eine Kerze anzuzünden will. Dennoch - manchmal brennt am ersten November auf den Grabhügeln von Namenlosen ein Licht.
Im litauischen Druskininkai, einem winterlich traurigen Kurort an der Memel, auf einem Waldfriedhof am See, habe ich etwas Schönes erlebt. Es gab Grabstätten von litauischen, polnischen und russischen Familien, die unversehrt nebeneinander lagen. Ich sprach eine Einheimische darauf an, sie zuckte mit den Schultern und erwiderte: ´ist doch natürlich, so war die Geschichte hier´. So simpel das klingt, so wenig ist es eine Selbstverständlichkeit. Selbst auf diesem Friedhof war eine Ecke verwilderter, als alle anderen - es war die, wo die Russen lagen. Die meisten von ihnen hatten sich nach dem Weltkrieg in dieser Gegend angesiedelt, sie waren Vertreter der kommunistischen ´Besatzungsmacht´ - viele Grabsteine tragen statt einem Kreuz einen rote Stern. Jetzt werden sie posthum dafür bestraft, indem man auf ihren Gräbern das Herbstlaub liegen lässt. In diesem Moment begriff ich, was zu tun war: Ich krempelte die Ärmel hoch und räumte die Äste von den russischen Grabsteinen. Und wusste, dass es gut war.
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