Gegen Führungskreise der regierenden Arbeiterpartei (PT) werden seit Wochen schwere Korruptionsvorwürfe erhoben. Zur Debatte steht nicht die persönliche Vorteilsnahme Einzelner, sondern die Finanzierung von Kampagnen und die Besetzung des Staatsapparates, um eine Regierungsmehrheit der PT über die Legislaturperiode hinaus zu sichern - von einer "Mexikanisierung des Staates" ist die Rede.
Die Regierung versucht, dem Staat ein sozialeres Gesicht zu geben und die Millionen von Enteigneten und Entmachteten in das Zentrum nationaler Politik zu stellen. Diese Absicht heiligt freilich keinesfalls jedes Mittel. Korruption ist und bleibt verwerflich - die Opposition versucht nun, den Präsidenten selbst zu belangen, bisher ohne Erfolg.
Allerdings ist es wichtig, über die
wichtig, über die jetzige Krise hinaus ein klareres Bild vom Wert einer linken Regierung in Brasilien zu bekommen. Als Lula an die Macht gelangte, war das neoliberale Paradigma bereits diskreditiert. Lula erbte von seinem Vorgänger Fernando Henrique Cardoso eine akute Wirtschaftskrise, ausgezehrte Geldreserven und eine grassierende Inflation. Er selbst charakterisierte dies so: "Ich habe eine sinkende Titanic geerbt und meine ersten Maßnahmen bestanden darin, das Leck zu schließen, um ein Wirtschaftschaos zu verhindern. Erst danach konnte ich mich auf meine Wahlversprechen besinnen, die Republikanisierung der Macht einleiten und ein Wirtschaftswachstum ankurbeln, das sich auf soziale Integration und Umverteilung des Einkommens stützt".Dieses gewagte Programm sah eine strategische Übergangsphase vor, deren Credo von grundlegender Bedeutung ist, um die Regierung Lula und die eingeschlagene Wirtschafts- und Sozialpolitik richtig beurteilen zu können. Wie bei jeder Transformation gibt es Ebenen der Kontinuität und solche der Innovation. Man fragt sich zu Recht, wohin der Übergang führen soll - im Falle Brasiliens würde er auf den Weg von einem hoch konzentrierten neoliberalen zu einem republikanischen Staat hinauslaufen. Im neoliberalen Staat existiert keine konsistente öffentliche Politik, während die republikanische Variante das Soziale in den Vordergrund stellt sowie ein Gleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten eines aktiven Citoyen in einer partizipatorischen Demokratie anstrebt.Um diesem Programm folgen zu können, hat sich die Regierung Lula einer ausgependelten Strategie unterworfen. Auf der Ebene der Kontinuität wurde das makroökonomische neoliberale Projekt beibehalten und sogar radikalisiert (mit 4,7 Prozent des BIP wurde 2003/04 ein höherer Haushaltsüberschuss als zuvor erwirtschaftet); auf der Ebene der Innovation setzte die Regierung die Projekte "Null-Hunger" und "Familien-Förderung" in Gang. So gelang ihre eine Besänftigung des misstrauischen Marktes. Dafür erntete sie Applaus vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Weiterhin wurde die Währung stabilisiert. Mit den sozialen Innovationen hingegen hat die Regierung sieben Millionen Familien direkt begünstigt. Für diese Menschenmassen, die vorher kaum zu essen hatten und im absoluten Elend lebten, sind die sozialpolitischen Maßnahmen eine Art Eintrittskarte zu einem machbaren Paradies auf Erden geworden.Was aber hat sich als wesentlicher Stolperstein für diese Strategie des Wechsels erwiesen? Ganz einfach: es gibt ein abgrundtiefes Missverhältnis zwischen beiden Zielsetzungen. Den Löwenanteil des Budgets reißt sich nämlich das makroökonomische Projekt unter den Nagel, das dem Finanzsystem etwa zehn Milliarden US-Dollar monatlich in Form von Zinszahlungen überweist, während nur eine Milliarde für Sozialprojekte verbleibt.Die entscheidende Frage ist: Lässt sich mit einem solchen sozialpolitischen Instrumentarium überhaupt eine "Republikanisierung des Staates" und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit sozialer Integration und Umverteilung des Einkommens schaffen? Beinahe täglich wächst die Überzeugung, dass die vorgegebene Wirtschaftspolitik mit einer ausgeprägten Sozialpolitik unvereinbar ist. Die Kritik wird lauter und ungeduldiger. Die Enttäuschung in den sozialen Bewegungen schwillt an.Lula ist sich dieser Unverhältnismäßigkeit durchaus bewusst, er fühlt wachsenden Druck und weiß um das Gebot einer Entscheidung. Was wird er tun? Sollte er das makroökonomische Projekt vorziehen, wird er notgedrungen wesentliche Abstriche bei den Sozialprojekten machen müssen. Entscheidet er sich für mehr Sozialpolitik, wird er die makroökonomische Strategie revidieren müssen.Beide Optionen haben gravierende Konsequenzen. Entweder es kommt zu Unruhen und Massendemonstrationen auf den Straßen und die Forderungen der sozialen Bewegungen nach einer Politik im Sinne des Gemeinwohls werden immer unerbittlicher. Oder die dominanten Akteure des Marktes und des Finanzsystems üben massiven Druck aus, was eine gefährliche Destabilisierung zur Folge haben könnte.Derzeit lässt sich nicht sagen, welche Richtung Lula einschlägt. Nach den Korruptionsskandalen in seiner Partei und der daraus folgenden politischen Krise könnte er dazu neigen, wieder die Nähe der Basis zu suchen und eine andere makroökonomische Strategie einzuschlagen. Die nächsten Monate werden jedenfalls entscheidend sein, besonders im Hinblick auf die Aussichten für eine Wiederwahl Ende 2006 - auf die der Präsident persönlich große Hoffnungen setzt.Leonardo Boff lebt als Publizist in Brasilien und ist einer der prominentesten Vertreter der Befreiungstheologie.Brasiliens Wirtschaft 2003-2005(Angaben in Prozent)200320042005Bruttoinlandsprodukt (Trend zum Vorjahr)+ 0,5+ 4,9+ 3,9Inflationsrate14,76,55,9Haushaltsneuverschuldung- 5,2- 2,9- 2,5Auslandsverschuldung in Prozent der Ausfuhren271205183Auslandsverschuldung nominal (in Mrd. Dollar)213210Keine Ang. Bei 2005 handelt es sich um eine Prognose / Quelle: NZZ, Dresdner Bank Lateinamerika