Lulas Brief an die Banken

Im Gespräch Der brasilianische Soziologe Luis Fernando Novoa über einen machtlosen Präsidenten, eine stillgelegte Demokratie und das Gegenmodell Venezuela

Professor Luis Fernando Novoa lehrt an der renommierten Universität Campinas von São Paulo. Er arbeitet für ATTAC und REBRIP, eine brasilianische Nichtregierungsorganisation, die sich gegen die von den USA vorangetriebene transkontinentale Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (ALCA) wendet. Derzeit entwickelt er im Amazonasstaat Rondônia ein Konzept zur zivilgesellschaftlichen Überwachung von IIRSA, einem 2000 in Brasilia beschlossenen multilateralen Programm für Telekommunikation, Verkehr und Energie.

FREITAG: Als Ignacio Lula da Silva vor genau drei Jahren Brasiliens neuer Präsident wurde, feierte man ihn als den Hoffnungsträger eines Politikwechsels. Inzwischen ist die Enttäuschung groß, weil er die neoliberale Wirtschaftspolitik seines Vorgängers Fernando Henrique fortsetzt. Weshalb fand der erwartete Wechsel nicht statt?
LUIS FERNANDO NOVOA: Die Begeisterung über das historische Ereignis, einen Arbeiter im Palácio de Planalto von Brasilia zu sehen, hat uns sicher ein Stück weit blind gemacht. Heute wird deutlich, dass der Wahlsieg Lulas gar nicht vorrangig durch die Mobilisierung der Basis seiner Arbeiterpartei (PT) möglich wurde. Tatsächlich war seinerzeit eine Konsolidierung des neoliberalen Modells notwendig geworden. Die Finanzmärkte brauchten in gewissem Umfang Elemente der partizipativen Demokratie und damit die neue politische Linke in Lateinamerika, um nach den Katastrophen in Argentinien, Bolivien, Ekuador und teilweise auch in Brasilien der von ihnen dominierten Politik ein Minimum an Legitimität zurückzugeben.

Eigentliche Vorraussetzung für den Sieg der PT war der "Brief an die Brasilianer", den Lula noch vor den Wahlen schrieb und der eigentlich ein "Brief an die Banken" war. Darin stand sinngemäß, es wird keinen Bruch mit dem Kurs der vorherigen Regierung geben. Ohnehin hatten die Privatisierungen, die Deregulierung und die Hochzinspolitik des Präsidenten Fernando Henrique einen Politikwechsel nahezu unmöglich gemacht. Alle volkswirtschaftlichen Interventionsinstrumente waren längst aus der Hand gegeben - doch die ökonomische Krise zwang dazu, einen größeren gesellschaftlichen Konsens zu suchen. Mit einer von der traditionellen Rechten Brasiliens geführten Regierung war das ausgeschlossen. Es drohten Aufruhr und Unregierbarkeit wie in Argentinien oder Bolivien. Da kam das in Jahrzehnten erworbene Vertrauenskapital der Arbeiterpartei und ihres Kandidaten gerade recht, um neoliberale Rezepturen zu recyclen.

War der Verschleiß der Eliten nicht gerade diesen Rezepturen zu verdanken?
Die traditionellen Eliten Südamerikas sahen sich besonders durch die Korruption diskreditiert. Das betraf viele Politiker der achtziger und neunziger Jahre. Denken Sie an Raúl Salinas in Mexiko, Carlos Menem in Argentinien, Alberto Fujimori in Peru, Fernando Collor de Mello in Brasilien. Sie haben die Nähe zwischen Neoliberalismus, Kriminalität und Korruption allen vor Augen geführt. Mit diesem Personal war kein Staat mehr zu machen.

Also brauchte man Regierungen, die davon unbelastet waren ...
.. und mehr Transparenz versprachen und wenigsten vom Tenor her mehr Partizipation. Vom Standpunkt der Machteliten war das kein Problem, weil die entscheidenden Elemente volkswirtschaftlicher Souveränität längst transnationalisiert waren. Mit der jetzt offen zu Tage getretenen Paralyse der Regierung Lula da Silva und ihrer offenbaren Unfähigkeit, die Erwartungen der Menschen zu erfüllen, wird sich allerdings auch in Brasilien bald wieder die Frage der Regierbarkeit stellen.

Retter in letzter Minute

Wie war es möglich, dass die Arbeiterpartei selbst in diesen Sumpf der Korruption geraten konnte? War sie nicht als Oppositionspartei mit einem radikal anderen Profil angetreten?
Zunächst einmal, ein Teil der geradezu hysterischen Medienkampagne zu den Korruptionsskandalen der PT wird von ultrarechten Politikern gesteuert, die jetzt eine Chance sehen, die Linke ebenso zu diskreditieren, wie sie selbst diskreditiert sind. Die objektiven Gründe aber für die unbezweifelbar schwerwiegenden Verfehlungen führender PT-Politiker sind in der nur rudimentär entwickelten Parteiendemokratie Brasiliens zu suchen. Da ist das ungelöste Problem der Wahlkampffinanzierung, denn die dominanten Medien sind privatisiert und werden von den etablierten Eliten beherrscht. Weil das so ist, musste der Präsidentschaftskandidat Lula da Silva umgerechnet 75 Millionen Euro für eine professionell geführte Kampagne ausgeben, vier Mal mehr als sein Konkurrent. Dieses Geld war für die Arbeiterpartei nur schwer aufzubringen, zumal sie die einzige Partei des Landes ist, die sich eine kostspielige innerparteiliche Demokratie leistet. Parteifunktionen werden durch direkte Wahlen unter den 850.000 Mitgliedern besetzt. Die Kosten dieses Verfahrens können durch eine zehnprozentige Steuer auf das Einkommen der Amtsinhaber mehr schlecht als recht beglichen werden.

Alle anderen Parteien sind sehr eher Zweckverbände, deren einziges Ziel die Teilhabe an der Macht ist. Das führt zu einem unvermeidbaren Geschiebe um Posten und Pfründe. Muss unter diesen Umständen eine Koalition gebildet werden, ist die Grenze zur Bestechlichkeit schnell überschritten. Wahrscheinlich war es ein Fehler des Präsidenten, allein auf die herkömmlichen Institutionen der Demokratie zu setzen und die Mobilisierung seiner Basis nach den Wahlsieg 2002 zu vernachlässigen.

Sie sagen, die Politik des Vorgängers Fernando Henrique hat den von der PT gewollten Politikwechsel unmöglich gemacht, noch bevor Lula da Silva sein Amt antrat. Warum?
Präsident Fernando Henrique hat Brasilien mit großer Geschwindigkeit modernisiert, aber nicht von innen, sondern von außen, auf eine alles andere als nachhaltige Weise. Er hat die Hyperinflation erfolgreich bekämpft, indem er die Stabilität der Landeswährung, des Real, ausschließlich vom Zufluss spekulativen Kapitals abhängig machte. Damit wurde Brasilien ohne jeden Vorbehalt in das System der internationalen Kapitalmärkte integriert. Die Zentralbank wurde autonom, ohne dass man ihr wie etwa der US-Zentralbank beschäftigungspolitische Auflagen erteilte. Die Auslandsschuld wurde in viele kleine Titel aufgeteilt und frei auf den Kapitalmärkten gehandelt. Die Folge war, dass sich die Verschuldung verzwanzigfachte. Zugleich wurden die öffentlichen Unternehmen - staatliche kreditiert - zu Dumpingpreisen verkauft. Das Ergebnis von alldem war nicht etwa eine Modernisierung unserer Ökonomie, sondern der Verlust strategisch unverzichtbarer industrielle Kernsektoren: die Energie-Versorgung, die Telekommunikation sowie die Ölförderung wurden privatisiert - zusammenhängende industrielle Produktionskreisläufe zerstört. Was übrig blieb, waren jene industriellen Cluster, die für ausländische Investoren keine hinreichenden Aussichten auf Rendite boten.

Fazit: Das teuflische Erbe von Lulas Vorgängern bestand mit einer horrend angewachsenen Verschuldung und einer sich abzeichnenden Rückkehr der Inflation. Als sich dann im Wahlkampf 2002 die Möglichkeit eines Sieges des PT-Kandidaten abzeichnete, begann der Terrorismus der Finanzmärkte. Kapital wurde massiv abgezogen, eine ungeheure Hysterie erfasste das Land. Als Retter in letzter Minute trat der IWF mit einem Kredit von über 30 Milliarden Dollar auf den Plan, der allerdings an Bedingungen geknüpft war. Noch nicht einmal im Amt, musste die neue Regierung zusichern, die Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenpolitik der alten unverändert fortzusetzen. Alles nach der Devise, wir helfen euch, dafür aber liefert ihr uns bitte die wirtschaftlichen Entscheidungsstrukturen aus.

Panzer gegen den Wandel

Die Krise als effizienter Hebel, um die Interessen der Finanzmärkte durchzusetzen.
Man konnte das zumindest der Tatsache entnehmen, dass die Regierung Lula durch den Druck des spekulativen Kapitals gezwungen wurde, ein astronomisch hohes Zinsniveau aufrechtzuerhalten. Das verschaffte den Banken Rekordgewinne und erstickte jedes Wachstum. Man panzerte sich quasi gegen den politischen Wandel ab - die Demokratie wurde regelrecht stillgelegt. Ein Beispiel dafür, wie die Globalisierung totalitäre Züge annehmen und eine Demokratie paralysieren kann. Die Folge ist letztlich die Zerstörung der Politik.

Wie wird unter diesen Umständen die neoliberale Rezeptur heute in der brasilianischen Öffentlichkeit diskutiert?
Unsere Machteliten neigen dazu, ökonomische Defizite damit zu erklären, dass von der neoliberalen Orthodoxie gelegentlich abgewichen wurde. Beispielsweise blieb der Wechselkurs des Real aus politischen Gründe lange Zeit fest an den Dollar gebunden und wurde erst 1999 freigegeben. Heute gibt es Gruppen, die durchaus auch in der jetzigen Regierung wie in der Zentralbank sitzen und glauben, eine noch strengere Befolgung der neoliberalen Vorgaben könne den bisher ausgebliebenen Erfolg bringen. Weiter reduzierte Staatsausgaben und eine noch einseitigere Exportförderung seien die probate Antwort auf die Probleme des Landes. Das läuft unter dem Label "Washington Konsensus II". Ein Protagonist ist der von der PT gestellte Finanzminister António Palocci, der allerdings derzeit durch Korruptionsvorwürfe geschwächt scheint. Brasilien erfüllt eine wichtige Rolle für die IWF-Strategie und die hinter ihm stehenden globalisierten Kapitalmärkte, sein Beispiel soll helfen, die Instrumente des Washington Konsensus zu rehabilitieren. Dieses Motiv sorgt auch für das äußerst positive Urteil, das die Finanzexperten von JP Morgan oder Merill Lynch über die Regierung Lula fällen.

Was geschieht, wenn die Versuche der sozialen Bewegungen fehlschlagen, die Enttäuschung über Lula in eine Suche nach politischen Alternativen münden zu lassen? Gibt es mit dem venezolanischen Präsidenten Chávez erste Anzeichen eines neuen Caudillismus auf dem Subkontinent?
Sicher gibt es diese Möglichkeit mit all den Gefahren, die extreme Personalisierungen in der Politik notwendigerweise begleiten, selbst wenn dies wie im Falle des Hugo Chávez mit den allerbesten Absichten geschieht. Dessen Messianismus ist letztlich nichts anderes als die Projektion einer Mehrheit der Venezolaner, die jedes Vertrauen in das politische System ihres Landes verloren haben. Der Caudillismus ist ein deutliches Symptom dafür, dass traditionelle Institutionen der Demokratie paralysiert sind. Er lebt von der direkten Beziehung zwischen einer charismatischen Persönlichkeit und der Masse der an den Rand Gedrängten. Daraus entsteht jene politische Macht, die es erlaubt, die Legitimität von Interessen der transnationalen Eliten in Frage zu stellen. In dieser Beziehung ist Chávez das genaue Gegenmodell zu Lula, der nahezu ausschließlich auf die Institutionen der traditionellen Politik setzt.

Worin bestehen unter den heutigen Verhältnissen die Gefahren dieses in Ansätzen erkennbaren Caudillismus eines Hugo Chávez?
Die Personalisierung von Konflikten führt zur permanenten Radikalisierung des Diskurses. Bei Chávez ist es die Intensität des Konflikts mit den alten Machteliten und den USA, die ihm den Zuspruch der Massen sichert. Zum anderen - und dessen ist sich Chávez durchaus bewusst - hängt der Erfolg fast allein von einer Person ab. Sein Verschwinden würde katastrophale Effekte in der Demokratisierungsbewegung auslösen, die hinter der Bolivarianischen Revolution steht. Deshalb versuchen sowohl die venezolanische Zivilgesellschaft also auch Chávez selbst, das Monopol der charismatischen Macht aufzulösen und neue dezentrale politische Institutionen zu schaffen. Dem dient auch die neue Verfassung Venezuelas.

Wild entschlossene Agrarlobby

Mobilisierend auf die brasilianische Zivilgesellschaft wirkt der Widerstand gegen die von den USA gewollte kontinentale Freihandelszone ALCA, die Lateinamerika zu spalten droht. Die MERCOSUR-Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay sowie Venezuela verhalten sich ablehnend. Chile, Peru, Kolumbien, Zentralamerika, vor allem Mexiko drängen, ALCA zu verwirklichen. Was eigentlich spricht aus brasilianischer Sicht gegen dieses Projekt?
In unserem Land ist eine Investitionsgüterindustrie entstanden, die in der so genannten Dritten Welt ihresgleichen sucht. Die bis 1984/85 herrschende Militärdiktatur wollte Brasilien zur regionalen Führungsmacht im Südatlantik machen. Um die notwendige technokratische Elite auszubilden, wurden Universitäten zu Exzellenzzentren umstrukturiert. Es entstand ein beachtliches Know-How im Flugzeug- und Raketenbau, mit dem heute durchaus die Basis für eine unabhängige Ökonomie gegeben wäre. Die Freihandelszone würde diese Infrastruktur - vor allem bei Forschung und Entwicklung - schwächen, wenn nicht zerstören. Das hat die Erfahrung Mexikos mit der NAFTA* mehr als deutlich gezeigt. Es gibt einen breiten Konsens bei uns, statt ALCA regionale Formen der Integration wie den MERCOSUR zu nutzen. Wie jüngst der Amerika-Gipfel in Argentinien gezeigt hat, leistet die Regierung Lula da Silva trotz des erheblichen Drucks der einheimischen Agrarindustrie hinhaltenden Widerstand, während andere Länder des Subkontinents sich bereits in ihr Schicksal fügen.

Sie sagen, der Druck, die neoliberale Politik fortzusetzen, komme nicht nur von außen, von den Kapitalmärkten, sondern auch aus der brasilianischen Gesellschaft selbst. Von wem genau?
Mächtige transnationale Unternehmen unserer Agrarindustrie wollen als Global Player die Freihandelzone, um sich dadurch auf den Märkten des Nordens besser platzieren zu können. Den Ausfuhren dieser Unternehmen verdankt Lula da Silva die Rekordüberschüsse, mit denen er in seiner Außenhandelsbilanz glänzt. Ihr Einfluss erklärt auch das Verhalten Brasiliens jüngst bei den WTO-Verhandlungen in Hongkong. Mit dem Kampf gegen die Agrarsubventionen in den USA und der EU ist Brasilien nicht etwa ein Anwalt der Schwellenländer - es folgt allein den Interessen seiner Agrarlobby, die wild entschlossen ist, zum Weltnahrungsmittelproduzenten Nr. 1 aufzusteigen. Dafür ist jedes Mittel recht, sei es der Anbau gentechnisch veränderten Saatgutes, die radioaktive Bestrahlung von Früchten oder die Abholzung des Regenwaldes für den Sojaanbau. Diese Kräfte hintertreiben eine wirkliche Landreform, weil sie natürlich nicht an agrarischen Familienbetrieben interessiert sind. Sie würden den eigenen Binnenmarkt weiter öffnen, wohl wissend, das damit die einheimische Milchproduktion stranguliert wäre. Brasilianische Geflügelproduzenten haben mit ihren massiven Exporten die Konkurrenz in Südostasien in große Bedrängnis gebracht. Selbst die immer noch staatliche Ölgesellschaft Petrobras verweigert Investitionen in Bolivien, weil dort wegen der Massenbewegung für eine Nationalisierung der Gasvorkommen angeblich kein positives Investitionsklima mehr herrsche. Insofern verhält sich Brasilien unter der Regierung Lula genau so wie die westlichen Industriestaaten, um die Interessen der transnationalisierten Eliten zu bedienen.

Das Gespräch führte Stefan Fuchs

(*) 1994 gegründete Nordamerikanische Freihandelszone


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