Heimliche Siegerinnen: Regisseurin Maren Ade mit einer „Toni Erdmann“-Figur
Foto: Loic Venance/AFP//Getty Images
Z ur gepflegten Veranstaltung für arrivierte Autoren war das Festival aller Festivals in den vergangenen Jahren verkümmert. Mit dieser Stagnation wurde bei der 69. Ausgabe von Cannes endlich gebrochen. Nicht radikal, aber doch konsequent genug, um am Ende klare Verschiebungen erkennen zu können. Wer ein vielfältiges Gegenwartskino erleben wollte, der musste in diesem Jahr nicht zwischen den einzelnen Sektionen hin und her pilgern. Man konnte sich ruhig in der „Sélection officielle“ einrichten. Denn es wurde wieder darauf geachtet, eigensinnigen, herausfordernden und formsprengenden Arbeiten den notwendigen Platz einzuräumen.
Die Preise spiegeln davon nichts wider, denn die von der Kritik (und dem Premierenpublikum) gefeierten Filme gingen alle leer
alle leer aus. Die Jury von Mad-Max-Erfinder George Miller, der immerhin Regisseure wie Arnaud Desplechin und László Nemes angehörten, wählte mit traumwandlerischer Sicherheit Filme, die immer gewinnen könnten. Ihre Botschaft: Die Erneuerung hat nicht stattgefunden. Der Brite Ken Loach, zum zweiten Mal mit der Goldenen Palme prämiert, bewegt sich in I, Daniel Blake routiniert. Ein tapferer Held mit Herzbeschwerden versucht, gegen die Bürokratiemühlen des outgesourcten Staats seine Arbeitsbefreiung zu verlängern. Das engagierte Drama leuchtet die moralischen Fragen aber zu penibel aus (Drehbuch: Paul Laverty), um neue Denkanstöße zu geben. Der Einzelkämpfer gegen das System, diese Sorte Herzmassagenkino darf ruhig sein. Auszeichnen muss man es nicht mehr.„Toni Erdmann“ famosUnd der kanadische Regiewunderknabe Xavier Dolan, der von der Presse Buhrufe erntete, aber überraschend den Großen Preis der Jury erhielt? Er hat sich mit der Adaption von Jean-Luc Lagarce’ Theaterstück Juste la fin du monde trotz Staraufgebots keinen allzu guten Dienst erwiesen. Erlesen fotografierte Großaufnahmen von Marion Cotillard, blauer Lidschatten von Nathalie Baye, Wut- und Wortkaskaden von Vincent Cassel, dazwischen ein lebensmüder Gaspard Ulliel. Das Familiendrama dreht sich von Anfang an auf Hochtouren, die Nuancen gehen schnell mal verloren.Die eklatanteste Auslassung war es freilich, Maren Ades Toni Erdmann komplett zu ignorieren. Vielleicht erschien der Jury die Komödie, die Cannes am ersten Wochenende im Sturm erobert hatte, nicht gewichtig genug. Dabei ist der Film damit ohnehin nur richtig umschrieben, wenn man die Komödie als jene vollständige Form betrachtet, die sie eigentlich ist.Toni Erdmann ist auf den ersten Blick eine Vater-Tochter-Geschichte. Sie, Ines, erfolgreiche Unternehmensberaterin in Rumänien, er, Winfried, ein anarchischer Spaßvogel, der sich mit falschem Gebiss und Perücke in ihr Leben zurückdrängt. Beim Geburtstagsfest einer fremden Familie zwingt Winfried seiner Ines alias Whitney Schnuck einmal auf, The Greatest Love of All zu singen. Eine fulminante Szene, die den ganzen Film enthält: das enge, aber schwierige Verhältnis zwischen den Generationen, die Notwendigkeit, im Beruf in einer professionellen Rolle zu genügen und vor Publikum zu bestehen, schließlich die Freiheit, die in der Überschreitung einer Grenze liegt. Sandra Hüller und Peter Simonischek spielen das Duo, ja Duell famos. Das Aus-der-Rolle-Fallen ist in Toni Erdmann mehr als ein Gimmick. Es ist ein Mittel, das die angeblich so unerschütterlichen Gesetze der Tatkraft aus den Angeln hebt.Es war nicht der einzige Film, der eine Lust am Unsinn hatte, mit dem sich gegen jenes Kino rebellieren lässt, das sich an die Regeln der Wahrscheinlichkeit klammert. Der Eigenbrötler Bruno Dumont lässt in seinem Slapstickfilm Ma loute groteske Körper und Kannibalen in Normandie-Sumpflandschaften auf das Publikum los, bis es erschöpft in den Stühlen liegt. Albert Serra filmt in La mort de Louis XIV das Sterben des Sonnenkönigs vor ausgewählten Zusehern. Nouvelle-Vague-Veteran Jean-Pierre Léaud zuckt im Bett mit der Unterlippe, während ihm das Personal Rotwein eintröpfelt und über lebensverlängernde Maßnahmen spekuliert. Noch eine Komödie über eine Gesellschaft ohne Idee von der Zukunft.Paul Verhoeven demonstrierte am Ende der Filmfestspiele mit Elle, dass man selbst über eine Vergewaltigung eine herrlich bösartige Gesellschaftssatire drehen kann. Isabelle Huppert spielt die Chefin eines Computerspielunternehmens, die in ihrem Haus von einem Einbrecher sexuell missbraucht wird, danach aber keine Spur eines Traumas erkennen lässt. Beim Abendessen mit Freunden erwähnt sie den Vorfall en passant. Das verträgt sich vortrefflich mit dem Rollenprofil der Huppert, dieser Königin der Kaltschnäuzigkeit. Elegant wie eine Bourgeoisieattacke von Claude Chabrol inszeniert, ist Elle von eiskalter Ironie gegenüber den moralischen Vorstellungen, die das Auskommen der Geschlechter regeln.„Aquarius“ bravourösCristi Puius Sieranevada mag im Vergleich dazu traditionelles Terrain beschreiten. Der rumänische Regisseur dringt drei Stunden lang beharrlich in das morsche Gefüge einer Familie vor. Lary (Mimi Brănescu) kehrt aus Paris nach Bukarest zurück, um an einer Erinnerungsfeier für seinen unlängst verstorbenen Vater teilzunehmen. Auf dem engen Raum einer Wohnung sehen wir die immer wieder verzögerten Vorbereitungen dazu. Flur-, Küchen- und Wohnzimmergespräche entstehen, die genauso um familiäre Konflikte kreisen, wie sie von dem Versuch erzählen, die politische Gegenwart zu verstehen. Die große Kunst des Films ist seine Beiläufigkeit: Wenn die Männer nach drei Stunden befreit auflachen, muss man das ebenso.Ein durchdringender Blick auf familiäre und gesellschaftliche Verwerfungen zeichnet schließlich Kleber Mendonça Filhos Aquarius aus. Mit der so geerdeten wie leidenschaftlichen Clara (bravourös verkörpert von Sônia Braga) hatte der Brasilianer eine der beeindruckendsten Protagonistinnen des Festivals aufzubieten. Die ehemalige Musikkritikerin weigert sich beharrlich, ihre Wohnung am großen Sandstrand von Recife zu räumen. Sie lässt sich auch nicht auf ihr Alter festlegen. Sie nimmt sich immer noch das, wonach ihr die Lust steht.Mit Claras Beharren auf ihren eigenen Raum, auf ihr Recht, die Frau zu bleiben, die sie schon immer war, setzt sich Mendonça Filho von den Fabeln über Globalisierungsverlierer ab, die nur das Gewissen des Publikums erleichtern. Die neuen Heldinnen von Cannes verteidigen ihr Glück.
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