Das Jahr 1988. Jacob Kersting, Kunsthistoriker aus der DDR, darf nach Wien, um dort zu tun, was in Görgy Dalos Erzählung Jugendstil (der Freitag 9.10.2008)) Robert Singer tat, nämlich zum Jugendstil forschen. Eigentlich hatte Kersting ja über van de Velde schreiben wollen, doch den hatte seine Geliebte bei der Rückkehr zu ihrem Mann dem als Morgengabe mitgebracht.
So macht er sich an den unbekannteren Architekten Josef Hoffmann. Über ihn, über Adolf Loos, überhaupt die Wiener Architektur wird man im Roman sehr ausführlich informiert werden. Kersting hat in Wien eingangs noch von der Marienbrücke gespuckt, am Ende, ermuntert durch ausführlich zitierte Lektüre Jean Amérys, wird er von ihr springen, aber lebend davonkommen.
Zuvor
er lebend davonkommen.Zuvor ist jedoch sehr viel zu berichten. Kersting kommt nämlich nicht nur in Wien mit allerlei interessanten Leuten in Kontakt, sondern erinnert sich überdies seiner Herkunft, Kindheit und weiteren Entwicklung.Das läuft in 89 Abschnitten alternierend durch: Mal Wien, mal Vergangenheit. Wien, genauer dann die untergehende Doppelmonarchie Österreich-Ungarn erinnert ihn an die siechende Sowjetunion.In der Erinnerungswelt scheint indes eine andere Parallele auf, die zwischen der Nazi- und der Kommunisten-Zeit, vor allem bei Jugend(ver)führung und Terror. Schneider interessiert sich besonders für Opportunismus und missgeleitete Begeisterung.Der Opportunismus der Erwachsenen unterm NS wie in der SBZ – und notfalls kann man ja rübermachen. Der sexuelle Kampf der Jugend, wie das früher mal hieß, der sich via Eifersucht oder Versagung in Begeisterung mal für die Nazis, mal für die Christen, mal für die Kommunisten ummünzt.Im Zentrum der zögerliche Jacob, auf der einen Seite der fiese Freund Ytsche, auf der anderen die geile Geesche. Verstrickte Beziehungen genug: Ytsche will Geesche, die will Jacob, der Heidi hinterherläuft, die aber was mit dem Junglehrer hat, was Geesche veranlasst, dessen Frau aufzuklären, die darum am Heiligabend bei Heidis pastoralem Vater auftaucht, worauf der gebratene Weihnachtsvogel dort ebenso kalt bleibt wie bei Ytsche, dessen Vater die Mutter über Roberts Vater erwischt – ausgerechnet in einem Sarg.Sind die leiblichen Verhältnisse schon arg akrobatisch, so werden sie durchs Politische noch komplizierter. Wenn zum Beispiel Geesche Jacob, der unhöflicherweise ihr FDJ-Beilager mit dem Satz „Du stinkst“ ablehnte, nun an der Universität als Gruschenka mit aller Denunziationsmacht verfolgt. Doch wird sie bald in geistiger Umnachtung verdämmern, nicht unähnlich der DDR, aus der Jacob sich so lau verabschiedet, wie er zuvor sich hindurchmanövrierte, nun auch noch einen Neonazi-Sohn an den Hacken.All’ dem gegenüber steht Jacobs Vater Robert, ein vitaler, anpackender, unbeugsamer Anarchosozialist, der von den Nazis, den Russen und der „Staatsmacht“ schikaniert wird. Was Gelegenheit zu einschlägigen Vergleichen, mehr aber noch zur unentwegten Entfaltung der politischen Geschichte gibt.Rolf Schneider ist ein kluger Kopf; er schreibt einen funktionalen Stil. Die ‚Verschweinung’ des Ornaments (Loos) ist nicht seine Sache. Stattdessen baut er seine Geschichte aus schier unendlich vielen Informationssteinchen der Historie. Dafür bietet das 20. Jahrhundert ja hinreichend Stoff.Mäandrierende LebensläufeZwar läuft der Erinnerungsstrang lange durch ein abgelegenes Harzdorf, ehe es nach Berlin geht, aber es ist viel Geschichte, die es zu erzählen gibt! Und noch mehr – zum Beispiel Fauna und Flora! Wenn ein Betrieb nach Rosa Luxemburg benannt wird, dann nicht ohne den Zusatz „nach der aus Zamość in Polen stammenden Linksrevolutionärin“.Gegenüber soviel enzyklopädischer Informationsdichte will das Personal nicht zurückstehen – so mäandrieren zahlreiche Lebensläufe, mal kürzer, mal ausführlicher durch die Geschichte. Man wird keinen eigendynamischen Figuren begegnen. Sie sind am ehesten, was man gehoben Chronophoren, stichelnd Informationsigel nennen könnte: So wie früher diese Käsehäppchenigel, sind die Figuren mit zeitgeschichtlichen Informationen gespickt.Und in Sorge, dass der Leser sich verirren könnte, hat Schneider wiederholende Rückversicherungen eingebaut, die uns immer wieder erinnern, dass der Gymnasialdirektor Jupiter tonans genannt zu werden pflegt oder Sonja die Frau Kerstings ist. Wie überhaupt rekursive Memorationen des bisherigen Wegs der Figuren geradewegs zum Stilmittel werden.Doch eigentümlich, so abschreckend das klingen mag: Lässt man sich darauf ein – und flugs wird man zum willigen Mitläufer –, dann bekommt dieser souverän komponierte, unentwegte Neugierstrudel seinen ganz eigenen Reiz. Wie ein milder Maelstrom zieht er in seinen Wirbel, langsam, aber unaufhörlich hinab, bis man am Ende durch ist – erschöpft und bereichert zugleich. Ein Nürnberger Trichter der anderen Art.