Trotzig lächeln und das Weltall streicheln: Lutz Rathenow wird 70

Interview Zehn Jahre lang war Lutz Rathenow in Sachsen Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. Ein Schriftsteller ist er immer geblieben. Jetzt wird er 70. Ein Gespräch über Politik, Poesie und Prosa
Trotzig lächeln und das Weltall streicheln: Lutz Rathenow wird 70

Foto: picture alliance/dpa

Zehn Jahre, von 2011 bis 2021, war Lutz Rathenow in Sachsen Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen gewesen. Seit einem Jahr ist er wieder zurück im Alltag eines Schriftstellers in seiner Wohnung in Berlin am Strausberger Platz. Es ist dasselbe Haus, in dem Franz Fühmann gewohnt hat. Schon als Anfang Zwanzigjähriger verfasste er in seiner Geburtsstadt Jena erste Texte. In seiner Studentenzeit gründete er einen Arbeitskreis für Literatur und Lyrik, der das Interesse der Stasi auf sich zog. Beide blieben dann – solange es die DDR gab – seine Begleiter: die Literatur und die Stasi. Als Literat ohne Neigung, die DDR zu verlassen, was ihm die Stasi mehr als einmal anbot, wollte er lieber „so viel Schaden wie möglich“ anrichten.

Als es die DDR nicht mehr gab, wurde er einer ihrer Deuter, von Jahr zu Jahr – scheint es – mit liberalerem Geist. Er kannte sich ja schließlich aus, weshalb er dann 2011 ins Amt als Landesbeauftragter berufen wurde. Ist ohne sein Amt der Weg frei für seine Rückkehr als Dichter? Eine erste Sammlung von Prosa aus fünfzig Jahren erscheint jetzt im Berliner Kanon Verlag unter dem Titel Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten.

der Freitag: Zehn Jahre als Landesbeauftragter – war das ein Opfer, was Sie dem Dichter Rathenow gebracht haben?

Lutz Rathenow: Ich fühle mich wohl in einem Unglücklichsein der permanenten Überforderung. Es war auch ein Ausruhen vom Literaturbetrieb mit der ständigen Versuchung der Selbstanpreisung. Die neuen Aufgaben waren sehr unterschiedlich spannend. Ich habe viel Kunst und Literatur in unsere Öffentlichkeitsarbeit integrieren können, weil ich das wichtig fand. Und habe viel in Leipzig, Dresden, Chemnitz und anderen Orten erlebt, allein die mitgehörten Gespräche auf Bahnfahrten. Ein gutes Team von MitarbeiterInnen, wer den Text Maskierungszärtlichkeit in dem neuen Buch liest, merkt, dass ich mich wohlgefühlt haben muss in Dresden.

Ohne das Politische in Ihrem Leben wären Sie vor fünfzig Jahren nie Schriftsteller geworden. Insofern ist der Abstand zwischen beidem, politischem Amt und Literatur, bei Ihnen gar nicht so groß, oder?

Richtig, solange ich entscheiden konnte, wann ich die Dienststelle betrete und wann ich sie verlasse. Meine ersten Gedichte haben viel Privates und viel aufdringlich Politisches gleichermaßen enthalten. Das Politische, zumal wenn es ausbrach aus dem Erlaubten, erzeugte mehr Resonanz. Die wollte schon meine Eitelkeit.

Vielleicht war die Frage nach der Politik als Anfang für ihr Schreiben etwas vorschnell. Warum haben Sie Anfang der siebziger Jahre eines Tages begonnen, Texte zu schreiben?

Ich habe als Drittklässler in einem Strandkorb an der Ostsee Geschichten über Dinosaurier in ein kleines Heft gekritzelt. Gestaltungslust? Verhaltensstörung? Unterentwickelte andere Fähigkeiten? Die ersten Gedichte in den Schüler-Anthologien von Edwin Kratschmer sind von der Lust an Kommunikation über Gedichte und ihren Vortrag geprägt. Ich interessierte ich mich schon früh für die Welt und ihre Gestaltung. Wie die Politik hineinfunkt in den Alltag. Auch die des Westens. Ich suche bis heute immer Resonanzräume, deshalb damals die Gründung des AK Literatur und Lyrik.

Der erste Prosatext in Ihrem Buch – offensichtlich waren sie 22 Jahre, als er entstand – erzählt von der Konkurrenz eines Jungen mit seiner jüngeren Schwester, die er über einen Hampelmann austrägt. Klar, er will Macht über die Schwester, aber es ist kein auf die DDR-Wirklichkeit beschränkter Text. Darin habe ich keinen dissidentischer Ton gehört. Was brachte ihn später in ihre Texte?

Er sickerte durch die Lebenserfahrungen ein, gerade im ersten Kapitel des Buches ist dem sehr schön nachzuspüren: ganz normaler DDR-Alltag, wenn zwei Frauen beim Arbeiten über ihre Scheidungsprobleme reden. Fantasiegeschichten über Riesen, SF-Texte, in denen Vernichtungsängste in den Weltraum transformiert sind. Dann ganz konkrete Erlebnisse eines rätselhaft missglückten Flirts, weil die Frau in derselben Nacht noch in den Westen flüchtet...

Ich kann an den Texten der Siebzigerjahre ablesen, wie Rathenow immer einen Zacken zulegt, um der Alltagsrealität zu entkommen und ins Absurde abhebt. Nicht ohne Grund hieß ihr erstes Buch, das 1980 bei Ullstein erschien: „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“. Ist der schwarze Humor ein Rathenow-Gen, ähnlich dem des großen Bruder Daniel Charms, oder war es die Methode, um das System lächerlich zu machen?

Also autoritäres Verhalten in seiner absurden Konsequenz zu zeigen geht weiter, als nur die DDR zu kritisieren. Das ist eher eine zwangsläufige Nebenwirkung. Der eine geordnete Ruhe einfordernde Realsozialismus weckt die permanente Lust nach größtmöglicher Ruhestörung. Hingegen kommt in Zeiten unübersichtlicher Erlebnisbeschleunigung ein Bedürfnis nach entschleunigter Wahrnehmung auf. So bleibt man sich treu und schreibt in anderen Zeiten doch anders. Statt das „Große Ganze“ zu beschwafeln, lieber das „Kleine Genaue“, also die Details beblicken.

Nicht nur die Groteske – zu Ihrer Poetik gehört auch das Spiel mit Zeit und Ort. Sie springen in einem Text oft und fliegen an neue Orte und in andere Zeiten. Dadurch zeigt sich Ihre Prosa nach vielen Seiten offen, was sie lebendig macht. Ist das eine bewusste Methode?

Es ergibt sich. Verschiedene Arten des Herangehens stehen gegeneinander und passen doch zusammen – hoffe ich. Dieses Buch versucht ein Anregungsgewitter zu erzeugen, das Neugier wecken und auch unterhalten soll. Ich bin stolz, Kindergeschichten als einen Faden in das Buch integriert zu haben.

Ohne DDR und ohne Reibung an ihr waren die literarischen Quellen für Sie nicht versiegt. In den ab 1990 entstandenen Geschichten schreiben Sie sich weiter in einen politischen Resonanzraum hinein. Ist das Ihre literarische Marke?

Die Markenvermeidung als Marke? Im letzten Kapitel sind mehrere Beziehungsgeschichten von selbstbewusst handelnden Frauen, die Männer alt aussehen lassen. Daneben sind drei literarische Reportagen, die DDR-Erfahrungen nach dem Ende der DDR einem Stresstest aussetzen. In Argentinien, in Uruguay mit den Opfern der Diktatur dort, in Ägypten, wo 2011 ein General den Gast aus Deutschland in etwas hineinziehen will, das auf einen Putschversuch hinauslaufen könnte. Und Impressionen aus Kaliningrad, ein Text, der sich heute beklemmend aktuell liest.

Es ist überraschend, in wie vielen Verlagen Ihre Prosa, Lyrik und Essays veröffentlicht wurden. Warum ist es nie zu einer Verlagsheimat gekommen?

Ich balanciere halt zwischen reiner Literatur und politischer Weltdeutung. Dazu meine meine Verzettelungslust mit Kinderbüchern, Lyrik, Rundfunkglossen. Um so schöner der neue Vereinigungsversuch bei Gunnar Cynybulk im Kanon Verlag. Werde ich je wieder ein so schön gestaltetes Buch im Zeichen rasant wachsender Papierpreise bekommen?

Ist nach der Politik und den Jahren des Gebundenseins der Weg frei für die Rückkehr ins Ungebundene des Dichters?

Ich ordne meine Gebundenheiten immer wieder neu, freue mich auf die Verpflichtungen der Lesereise und arbeite einfach weiter.

Info

Am 24. September 2022 findet um 20 Uhr im Palais der Kulturbrauerei Berlin die Buchpremiere statt. Auf dem Podium sitzen neben dem Verleger Gunnar Cynybulk Marko Martin, Harald Hauswald, Leander Haußmann und Ilko-Sascha Kowalczuk, Moderation: Marion Brasch, Lesung: Sabeth Vilmar

Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten Lutz Rathenow Marko Martin (Hrsg,), Kanon 2022, 24 €

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