Lyrik heute – ein Versuch

Vom Lyrikboom ist die Rede, doch niemand vermag es, die Tendenzen innerhalb der Gegenwartsdichtung auf einen Begriff zu bringen. Christian Metz erklärt, warum

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In der Lyrikkritik feiert derzeit die Überblicksdarstellung eine Hochkonjunktur. Und genau das Vermehrte dieser eigenwilligen Text­sorte trifft das Problem, oder besser die Besonderheit der heutigen Lyriklage auf den Punkt. Die deutschsprachige Lyrik zeichnet sich derzeit durch eine noch nie dagewesene, unüberschaubare Stimmenvielfalt aus. Die wiederum lässt sich auf drei Gründe zurückführen: Erstens haben heute – knapp 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – lückenlos alle Generationen an der lyrischen Vielstimmigkeit teil. Zweitens erlebt die Lyrik unter den jüngeren Autorinnen und Autoren seit knapp fünfzehn Jahren einen ungeheuren Boom. Seither hat sich, vor allem in den Weiten des Internets, eine eigene Lyrik-Öffentlichkeit etabliert, mit eigenen Plattformen und einer ausgeprägten Publikations- und Diskussionskultur. Drittens lässt sich in der Lyrik eine starke Individualisierung ausmachen. Wenn sich die Poesie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in literarische Strömungen (Dadaismus, Futurismus usf.) ausdifferenziert hat, so haben sich die Ismen jetzt zu Ich’men atomisiert. Liebe Lyrikvermesser, Euer Wunsch nach einem Panorama ist nachvollziehbar, aber lässt sich nicht erfüllen – zum Glück!
Poetische Innovation
Denn die Lyrik der Gegenwart gleicht einem Rhizom, das an allen Enden und in alle Richtungen wild auswuchert, was zugleich die Vorstellung von zielgerichtetem Fortschritt oder geregelter Entwicklung obsolet macht. Schaut man sich in diesem dynamischen Gewebe die Wachstumszone mit der höchsten Aktivität an, fällt dort ein weiteres Charakteristikum heutiger Lyrik auf: Unter den Autorinnen und Autoren, welche den Lyrikboom seit der Jahrhundertwende ausgelöst haben und ihn bis heute tragen, feiert sich niemand als Avantgarde. Ein paar Nostalgiker findet man, die eine Rückkehr vermeintlich guter Zeiten und Werte herbeisehnen. Doch eine Selbstbeschreibung als Avantgarde sucht man vergeblich. Das liegt nicht etwa an fehlenden Ideen oder an der beschriebenen Individualisierung, sondern an einer grundlegenden Erkenntnis, hinter die es offenbar kein Zurück gibt. Zur Signatur der Gegenwartslyrik gehört das Wissen, dass wir in einer breit ausufernden, rhizomatischen Gegenwart leben, der gegenüber jedes Avantgarde-Getöse unangemessen wäre. Die Gegenwartslyrik sieht sich im Kontinuum der Moderne und Postmoderne, deren Errungenschaften und Probleme bis in die Gegenwart fortwirken. Das Kontinuum der Postmoderne und die rhizomatische Gegenwart anerkennen, heißt zum einen, dass wir es mit einer Lyrik zu tun haben, die mit allen Wassern der lyrischen Tradition gewaschen ist. Das Archiv steht offen. Vom Reim bis zur Spenser-Strophe können alle Verfahren und Schreibweisen zum Material der eigenen poetischen Rede werden. Virtuos und kenntnisreich führt die heutige Lyrik die unterschiedlichsten Rhythmen, Klänge, Figuren, Denkmuster und Themen in ihren Gedichten miteinander eng, lässt sie kollidieren. Zum anderen haben wir es mit einer Poesie zu tun, die mit jeder Form von kultureller Osmose vertraut ist. Sie lässt die unterschiedlichsten Fach- und Fremdsprechen in die poetische Rede einfließen und hat ein feines Gespür dafür, in welche außerliterarischen Felder die poetische Sprache vordringt. In der Fortsetzung der Postmoderne dichten, bedeutet zugleich, dass die Sprache, das Subjekt sowie dessen Beziehung zur Außenwelt gleichermaßen prekär geworden sind. Doch was lange einseitig als Krise wahrgenommen wurde, lässt sich jetzt in heiterer Gelassenheit experimentell ausloten. Die Lyrik der Gegenwart betreibt eine poetische Grundlagenforschung. Sie spürt den Paradoxien des unternehmerischen Selbst (jeder seine Ich-AG), des Künstlersubjekts (sind wir nicht alle kreativ) sowie den Chancen und Risiken der digitalen Selbstperformanz und ästhetischen Multiplikation bis in die feinsten Risse der Selbstentwürfe nach. Die Lyrik hat sich so ein fruchtbares Feld poetischer Innovation erschlossen. Wir Leser dürfen uns auf eine weiter wachsende Vielfalt freuen. Die zeitgenössische Lyrik blüht uns noch lange nicht zu bunt.

Christian Metz, Literaturwissenschaftler und Journalist, lebt in Frankfurt a. M.

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