Autobiografie Luc Jochimsen ist eine der bekanntesten Journalistinnen in Deutschland. In „Verteidigung der Träume“ zieht eine durch und durch geradlinige Frau Bilanz
Die Bilder dieses Spezials sind Arbeiten des Streetfotografen Siegfried Hansen
Foto: Siegfried Hansen
Es gibt – hat eine kluge Publizistin einmal angemerkt – neben der (vehement bekämpften) Ostalgie auch eine merkwürdige Westalgie, die ehemalige DDR-Bürger pflegen. Westalgie kann verschiedene Formen haben, meint aber immer den wehmütigen Rückblick auf Zeiten, als wir vom Osten aus neiderfüllt und manchmal grimmig beobachteten, wie sich in der Bundesrepublik Menschen, Journalisten und Politiker gegen den Strom stemmen konnten, wie sich in dramatischen Zeiten der Protest formierte, Empörung artikulierte, Demokratie verteidigt wurde und dies vor allem breites mediales Echo erzeugte.
Der Erinnerungsband Verteidigung der Träume der bekannten Journalistin (und späteren Bundestagsabgeordneten der Linken) Lukrezia Luise „Luc“ Joch
e kluge Publizistin einmal angemerkt – neben der (vehement bekämpften) Ostalgie auch eine merkwürdige Westalgie, die ehemalige DDR-Bürger pflegen. Westalgie kann verschiedene Formen haben, meint aber immer den wehmütigen Rückblick auf Zeiten, als wir vom Osten aus neiderfüllt und manchmal grimmig beobachteten, wie sich in der Bundesrepublik Menschen, Journalisten und Politiker gegen den Strom stemmen konnten, wie sich in dramatischen Zeiten der Protest formierte, Empörung artikulierte, Demokratie verteidigt wurde und dies vor allem breites mediales Echo erzeugte.Der Erinnerungsband Verteidigung der Träume der bekannten Journalistin (und späteren Bundestagsabgeordneten der Linken) Lukrezia Luise „LucXX-replace-me-XXX8220; Jochimsen ist geeignet, diese spezielle Westalgie zu nähren. An die kritischen Beiträge der einstigen Panorama-Reporterin erinnern sich viele im Osten, die im Westfernsehen mehr als nur Der große Preis und Disco sahen. Denn Luc Jochimsen war eine der Besten.Nicht nur das macht die Biografie der 1936 in Nürnberg Geborenen so lesenswert. Das Buch ist selbst ein fabelhaftes und spannendes Panorama, das eine Kindheit noch im Krieg zwischen Bombenalarm und Phosphorverbrennung, das Aufwachsen in der Nachkriegszeit und später die Erfahrungen und Erlebnisse einer engagierten Journalistin umfasst. Ihr Leben, ihre Lieben, ihre Wirkungsstätten, ihr Sohn und ihre nicht geborenen Kinder, ihre Männer – über all das berichtet Jochimsen und zieht zwischendurch Bilanz, denkt über das „Gift des Geldes“ nach und die neoliberale Entwicklung, die sie mitten in ihrer Londoner Korrespondentinnenzeit hautnah miterlebt.Placeholder authorbio-1Sie war „ein Kind der Liebe“, schreibt sie. Aber vor allem – das ist über das ganze Buch hinweg spürbar – war sie ein geliebtes Kind in einer Familie, die zwar bürgerlich, aber durchaus nicht so war, wie es Ordnung und Sitte verlangten. Alles immer ein bisschen anders, ein bisschen abseits und spielerischer als anderswo. Sie denkt an ihren Vater, den Unangepassten mit dem unruhigen Geist, der aber ganz verrückte Träume mitten im Krieg wahrmachen konnte. Und der ihr keine Aussteuer gibt, weil er meint, eine Ausbildung sei wichtiger. Sie profitiert als US-Austauschschülerin von den Reeducation-Programmen der Amerikaner, lernt die USA kennen und erfährt in diesem „furchtbaren, großartigen, überwältigenden, schmerzhaften, beglückenden, grausamen und ganz und gar erhellenden Jahr“ viel über die Widersprüche dieses Landes.Kollegiale, hilfsbereite GegnerDieses Gespür für Widersprüche und Unrecht bestimmt ihre spätere journalistische Arbeit. Sie studiert Soziologie bei Helmut Schelsky und promoviert über eine Minderheit im Lande, über die jetzt wieder debattiert wird: die Zigeuner. So nennt sie sie, und so nennen sie sich im Gespräch nach vielen Jahren mit ihr. Das Thema begleitet sie, wie das Thema des Anderen, Fremden, Ausgegrenzten ihr nahe bleibt und – natürlich! – die Frauenfrage, aber die läuft bei ihr immer mit, ohne große Exkurse.Über ihre journalistischen Jahre, unter anderem in London, bei Panorama und als Chefredakteurin Fernsehen des Hessischen Rundfunks erzählt sie packend, und sie gibt Einblicke in die Machtkämpfe zwischen Politik und Medien. Zu erfahren ist aber auch, wie der Umgang trotz politischer Gegnerschaft respektvoll bleiben kann. Zum Beispiel als Roland Koch, dessen Parteispendenaffäre sie in mehr als einem Kommentar und Beitrag scharf kritisiert hat, ihr den Hessischen Verdienstorden verleiht. Sie erlebt die mediale Vernichtungswut gegen Michel Friedman, mit dem sie eng befreundet ist. Sie schildert die Gefechte, die es unter den verschiedenen Senderchefs zu bestehen galt, um einen Bericht durchzusetzen. Wie ihr Chef Peter Merseburger sie vor den wüstesten Beschimpfungen abschirmt. Ihre Erfahrungen als Chefredakteurin des Hessischen Fernsehens zeigen redaktionellen Alltag, den permanenten Kampf um Formate, Autoren, Sendungen.Placeholder infobox-2Wer heute den Hessischen Rundfunk empfangen kann, sieht leider wenig von ihrem Erbe. Nach der Wende erlebt sie, wie ein Beitrag über DDR-Frauen aus dem Jahr 1981 zu „Stasipropaganda im Westfernsehen“ umdefiniert wird – vom hinlänglich bekannten Forschungsverbund SED-Staat an der Technischen Universität Berlin.Links in ThüringenSchon vor 1989 hat Jochimsen die Sowjetunion und andere sozialistische Länder bereist und erfährt – wer hätte das gedacht – eingehende Befragung durch den Verfassungsschutz. Sie entdeckt, wie wenig sie sonst von dem (Bundes-)Land kannte, das sie auf der Liste der Linken in Thüringen vertreten möchte. Und will genau das ändern mit Projekten in ihrem Wahlkreis. Von 2005 bis 2013 sitzt sie für die Linkspartei im Bundestag.Am Ende schreibt Luc Jochimsen über die Erfahrungen des Alterns und der Krankheit, aber auch über neue Perspektiven. Eine durch und durch geradlinige Frau, ein wunderbares Buch, das dem Streben der Autorin, Brücken zu bauen, mehr als einen Stein hinzufügt.Placeholder infobox-1
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