Ausnahmezustand Im Fußball kennen die Niederlande keinen Spaß, wenn der Gegner Deutschland heißt. Deshalb hat sich das Goethe-Institut in Rotterdam eine besondere Kampagne ausgedacht
Der Flughafen Berlin-Schönefeld kommt, was provinzielle Tristesse angeht, gleich nach dem von Timisoara. An diesem Montagabend sind überraschend viele Menschen unterwegs. Im fensterlosen Winkel am Ende der Wartehalle hängt ein Bildschirm. Schweden ist gerade mit 1:0 gegen Bulgarien in Führung gegangen. Menschen mit blau-gelb bemalten Gesichtern jubeln im Fernsehen, Geschäftsreisende in Anzügen klemmen ihre Laptops zwischen die Füße und werfen die Arme hoch. Zwei Passagiere mit Flugziel Varna werden zum letzten Mal aufgerufen, sich an Gate 3 einzufinden. Das Flugzeug nach Rotterdam steht zum Abflug bereit.
Die sechs Jugendlichen, die eben noch über die Abwehr der Bulgaren diskutiert haben, stehen vom Fußboden auf. Sie sehen ein wenig beklomme
g beklommen aus. Die meisten von ihnen fliegen zum ersten Mal. Sie sind Straßenfußballer aus Oranienburg und gemeinsam mit ihrer Betreuerin Andrea Anders von der Brandenburgischen Sportjugend ins Goethe-Institut nach Rotterdam eingeladen. Das klingt ein wenig ungewohnt, steht doch das Goethe-Institut eher für Hochkultur, aber die Rotterdamer Filiale mit ihrer Leiterin Sabine Hentzsch hat sich in diesem Jahr des schwierigen Fußballverhältnisses zwischen Deutschland und den Niederlanden angenommen. Das ist mutig, wenn man weiß, an welchen Untiefen der niederländischen Seele jegliche Beschäftigung mit diesem Thema rührt. Die Niederländer mögen in jeder Hinsicht humorvoller sein als die Deutschen, im Fußball aber kennen sie keinen Spaß, wenn der Gegner Deutschland heißt. Und schon gar nicht, wenn es um das Finale der Weltmeisterschaft 1974 geht. Die Psychologin Anna Enquist nennt es die "Mutter aller Niederlagen", andere halten es für die Verlängerung des Zweiten Weltkrieges.Seit bald 30 Jahren fällt Bernd Hölzenbein im Strafraum der Niederlande immer und immer wieder, es ist die 26. Minute der ersten Halbzeit des Weltmeisterschaftsfinales 1974, der Schiedsrichter gibt Elfmeter, der von Paul Breitner verwandelt wird - und immer und immer wieder kommt die Frage, ob Hölzenbein schwalbengleich über seine eigenen Beine stolperte, oder ob der niederländische Gegenspieler Wim Jansen seine hingehalten hat. Holland ist besessen von diesem Spiel, auch in den zwei Tagen vor der EM-Begegnung werden wieder die entscheidenden Szenen im Fernsehen gezeigt. Selbst was die Westdeutschen am Morgen des 7. Juli 1974 zum Frühstück gegessen haben, wurde von den niederländischen Journalisten recherchiert.Es gab einige Revanchespiele seitdem. 1988 kickte Marco van Basten den Gastgeber Bundesrepublik Deutschland aus dem EM-Turnier. Im WM Spiel 1990 hatte Deutschland wieder die Oberhand und der Niederländer Frank Rijkard ging als Fußball-Lama in die Geschichte ein, weil er Rudi Völler von hinten in die Mähne spuckte. Bei dieser EM sollte es nun erneut zu einem Zusammentreffen kommen.Das Goethe-Institut hatte zur Auftaktveranstaltung im Februar Bernd Hölzenbein nach Rotterdam eingeladen. Zusammen mit dem Ex-Nationalspieler der Niederländer, Johnny Rep, eröffnete er die Fotoausstellung "Weltsprache Fußball" der Magnum-Agentur und stand wieder einmal Rede und Antwort zum Thema Schwalbe. Aber seine Erinnerung ist verblasst, was die These bestätigt, dass Fußballfans grundsätzlich mehr an Fußballgeschichte interessiert sind als die eigentlichen Protagonisten. "Ich kann mich nicht mehr daran erinnern", sagt Hölzenbein über das 74er-Spiel und auch, dass für ihn der Sieg 1954 viel wichtiger sei als der 1974. Anfang Juni ist die niederländische Fußballzeitschrift Hard Gras zweisprachig mit Beiträgen deutscher und holländischer Autoren erschienen, die sich dem Thema: "Deutsch-holländische Wahrheiten über das WM-Finale 1974" ausgiebig widmet. Auch Künstler haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Im Saal des Goethe-Institutes hängen großformatige Ölbilder von Raymond Cuipers, die den Weg der Spieler über das Fußballfeld im 1974er Finale nachzeichnen.Höhepunkt der Veranstaltungsreihe ist das Straßenfußballturnier "Der Anpfiff vor dem Anpfiff", das anlässlich der EM-Begegnung Deutschland-Niederlande zusammen mit dem Sportamt Rotterdams und dem Berliner "Netzwerk Steetfootballworld" vorbereitet worden ist. Am Abend werden die Jugendlichen gemeinsam das EM-Spiel im Fernsehen anschauen.Ganze Straßenzüge der Innenstadt Rotterdams sind in orange getaucht, Hunde im Oranjedress werden am Westersingel spazieren geführt, Babys tragen orange Strampler, selbst die Möhren im Bahnhofsbistro sind zu Fußbällen geschnitten. Es gibt jede Menge Devotionalienstände in den Straßen und Kaufhäusern.Auf dem Cover der Boulevardzeitschrift Panorama zerreißt ein blondes Mädchen in Orange einer tückisch dreinschauenden Brünetten das Deutschlandtrikot. Hosen haben beide nicht mehr an. Beigabe ist eine Voodoopuppe mit drei Nadeln und Gebrauchsanweisung. "Zünde am Dienstag 15. Juni 2004, um 20.40 Uhr eine Kerze an. Halte die Voodoopuppe mit beiden Händen fest, schließe die Augen und denke an einen deutschen Spieler. Nimm eine Nadel und halte sie an die Flamme, stecke sie in die Voodoopuppe. Schließ nun wieder die Augen und sprich folgende Worte: Du verursachst gleich einen Elfmeter für Oranje. Wiederhole das mit den zwei weiteren Nadeln und lege die Puppe an einen ruhigen Platz. Stelle nun den Fernseher auf Niederlande 2 und pass auf, was passieren wird ..." Die Puppe ist ein bedauernswertes Geschöpf im Deutschlandtrikot, ohne Nase und Füße und mit verkniffenen Mund, der wie ein Wurm aussieht.Am Nachmittag haben sich die vier Straßenfußballteams im Goethe-Institut eingefunden. Die Kicker sind so jung, dass ihre Eltern 1974 noch Kleinkinder gewesen sein müssen. Die Rotterdamer sind eine bunte Truppe. Neben Jugendlichen aus den besseren Vierteln der Stadt sind auch zahlreiche Migrantenkinder aus den südlichen Bezirken dabei, für die Fußball eine der wenigen Aufstiegsmöglichkeiten ist. Die Gruppen sitzen streng getrennt, die Stuttgarter ein Stück entfernt von den Brandenburgern, die Rotterdamer nach Vierteln geordnet. Vor dem Spiel müssen sie ausdiskutieren, nach welchen Regeln sie kicken wollen und wofür es Fairnesspunkte gibt, die genauso wichtig sind wie die Tore. Im Spiel gibt es keinen Schiedsrichter, sondern einen aus den eigenen Reihen gewählten Teamer, der den Spielverlauf begleitet und Streits schlichtet. So sollen die Jugendlichen lernen, dass man Konflikte ausdiskutiert und nicht mit Gewalt regelt. Voraussetzung beim "Straßenfußball für Toleranz" ist, dass gemischte Teams antreten. Mädchentore zählen doppelt. Handspiel ist nicht erlaubt. Torwart ist, wer gerade in der Nähe steht.Am Court auf dem Dach der Tiefgarage auf dem Schouwburgplein haben sich zahlreiche Journalisten eingefunden und simulieren Livereporter. In den letzten Tagen haben sich Sabine Hentzsch und ihre Mitarbeiterin Karola Matschke nicht retten können vor Anfragen niederländischer Medien. Der Oranienburger Patrick wird gefragt, ob er es gut findet, hier zu sein. Ja, sagt er spontan, die Schule fällt aus. Die Antwort von Steffen gefällt der Reporterin schon besser. Er findet es interessant, mal selbst der Ausländer zu sein.Daphne, Luzdary, Jala, Shaties, Yussuf und Mohamed kicken gegen Manuela, Patrick, Tommi, Mercedes, Frances und Steffen. Sie haben ihren Mannschaften Namen wie Real Kicker, Dreamteam, Allstars und German Kicker gegeben, manche imitieren die Ballkunst ihrer Idole und ignorieren überm Schönspielen das Tor.Im Turnier sind die Niederländer eindeutig besser, vor allem die Mädchen spielen ohne jede Angst vor Zweikämpfen. Zuletzt lassen sich zwei Rotterdamer Jungen in das Oranienburger Team einwechseln, das im Rückstand ist.Eine Stunde vor dem Anpfiff des EM-Spiels ist die Stadt wie ausgestorben. Im Goethe-Institut wird das Turnier ausgewertet. Die Jugendlichen sitzen jetzt durcheinander, Jungen und Mädchen flirten, die Mädchen haben die Turniertrikots über den nackten Bäuchen verknotet. Eine bunt gemischte Gruppe spielt Tischfußball, E-mail-Adressen und Handynummern werden ausgetauscht.Vor dem Abendessen handeln die Jugendlichen die Regeln für die folgenden 90 Minuten des EM-Spiels aus: Keine Gewalt und keine Häme, wenn ein Tor fällt. Buhrufe sind untersagt.In der ersten Halbzeit ist die deutsche Übertragung zu sehen, in der zweiten die niederländische. Umgeben von Niederländern klingen Kommentare von Johannes B. Kerner über niederländische Spieler wie: "Edgar Davids, Spitzname Pitbull, in Deutschland Leinenzwang" noch dümmer und chauvinistischer als vor dem heimischen Fernsehapparat. Die Deutschen stöhnen nach jedem dritten Satz. Einer der Oranienburger Jungs sagt: "Was für ein Trottel." Zwei von ihnen setzen sich nach einer Weile zwischen die Rotterdamer Jugendlichen.Im Jubel der Deutschen nach dem Treffer von Frings in der 30. Minute stehen zwei niederländische Jungs auf und werfen wütend ihre Mützen auf den Boden. Für eine Sekunde droht die Stimmung zu kippen. Dann verlassen sie den Saal und lassen den Dampf draußen am Kicker ab. In der Pause ziehen die älteren Mädchen ihre Lidstriche nach. Mit dem Ausgleich des niederländischen Stürmers van Nistelrooy in der 81. Minute fällt die Spannung auf Null. Irgendwie sind am Ende alle mit dem Ergebnis zufrieden, auch die Voodopuppe hat keinen Elfmeter für die Niederlande beschwören können. In der Stadt hat sich die Anspannung verflüchtigt. Die Väter und großen Brüder stehen vor der Tür des Goetheinstitutes und holen ihre Fußballkids ab. Die deutschen Jugendlichen kommen ohne Zwischenfälle in ihre Unterkunft. Alles bleibt offen. Vorläufig.
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