Madonnen und andere Heilsbringer

Festival-Bilanz Willkommen bei den internationalen Glaubensfestspielen von Venedig, lautete bei den 69. Filmfestspielen am Lido die Devise. Spektakulär aus dem Rahmen fiel nur ein Film

Anna Maria hat sich ganz ihrer Liebe zu Jesus verschrieben. Vorm Kreuz an der Wand ihres Arbeitszimmers schlüpft sie aus Oberteil und BH und unterzieht sich der Selbstgeißelung. Später wird sie sich in ihrem Haus am Stadtrand von Wien beim Beten die Knie wundrutschen, bevor sie mit einer Muttergottesstatue im Futteral ausgeht, um verlorene Seelen zu retten.

Shaleha und ihr Mann leben in der südlichsten Gegend der Philippinen. Das alternde Paar ist ein gutes Gespann, arbeitet hart als Fischer und Schilfmattenflechter, Seite an Seite, egalitär. Aber Shaleha kann keine Kinder bekommen. Also beschließt sie gemäß der Tradition, in ihrer muslimischen Community nach einer Zweitfrau zu suchen, die ihm ein Kind gebären kann.

Lawrence Dodd ist ein weltgewandter US-Amerikaner mit vielen Talenten, der um 1950 dabei ist, auf Basis von (pseudo-) wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden eine neue Heilslehre zu zimmern. Zu seinem Gefolge stößt ein veritabler Gottloser, ein Weltkriegsveteran mit Alkoholproblem. Freddie Quell wird Dodds Proband und Propagandist. Er bleibt aber eine unwiderstehliche Herausforderung für den frei nach Ron L. Hubbard gestalteten Meister.

Spirituelle Glücksritter

Die 69. Ausgabe der Filmfestspiele in Venedig, jetzt wieder unter Leitung des vor-vor-vorigen Direktors Alberto Barbera, war quer durch alle Programmsektionen von Filmen dominiert, die von religiösen Motiven und Glaubensfragen, vom Konflikt zwischen Individuum und religiösen Normen erzählten: von der Fallstudie einer leidenschaftlichen Marienverehrerin in Ulrich Seidls Paradies: Glaube über Brillante Mendozas leises Ehedrama Sinapupunan/ Thy Womb bis zu The Master, Paul Thomas Andersons Epos über spirituelle Glücksritter der Nachkriegsära.

Selbst Olivier Assayas’ nach-68er-Gruppenporträt Après mai verhandelte, wie politische Überzeugungen zu Dogmen werden, und der Goldene Löwen ging an Kim Ki-duks Läuterungsdrama Pieta. Offen blieb, ob dieses Line-up repräsentativ fürs Weltkino oder doch eher für die gegenwärtige Welt ist, in der religiös konnotierte Differenzen und Debatten die politischen überlagern und ablösen. Die Orrizonti-Sektion, die „neue Trends“ verzeichnen soll, hat Barbera verkleinert, vor allem auf experimentelle Kurz- und Dokumentarfilme verzichtet. Dafür schienen die historischen Reihen wieder stärker im Hinblick auf produktive Interferenzen mit den aktuellen Filmen zusammengestellt. Nora Aunor, die Shalehas stille Trauer in Sinapupunan beeindruckend vermittelte, war so auch in Ishmael Bernals 30 Jahre altem Melodram Himala/ Miracle zu bestaunen – als junge Frau, die nach einer Marienerscheinung zur Wunderheilerin avanciert.

Spektakulär aus diesem Rahmen fiel nur Harmony Korines Spring Breakers: Ein Projekt, für das Korine mit Selena Gomez und Vanessa Hudgens zwei Teen-Stars von Weltrang engagiert hat. Gemeinsam mit Ashley Benson und Rachel Korine schickt er diese als infernalisches Krawallmädchenquartett in Neonbikinis gen Florida, um dort orgiastisch gestimmte Frühlingsferiengäste und gestandene Gangsta-Rapper ordentlich aufzumischen. Erweckungserlebnisrhetorik („Wir haben hier zu uns gefunden, Mutti!“) machte in kaum einem anderen Film so gut (Un-)Sinn.

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