Totgesagte neigen dazu, nicht nur länger auszuhalten als erwartet, sondern auch entschiedener aufzuleben als befürchtet. Der NATO widerfährt gerade eine solche Laune der Zeit. Wider alle Vernunft, aber nicht alle Logik, nach 1990 am Leben geblieben, glaubt sie, wieder mehr unterm Fuß zu haben als das letzte Brett eines davon fahrenden Zuges.
Auf ihrem bevorstehenden Prager Gipfel wird die westliche Allianz eine zweite, ultimative Erweiterungsrunde einläuten, um angefallene östliche Ressourcen auszuschöpfen. Als Neu-Mitglieder gesetzt sind die baltischen Staaten und Slowenien. Als aussichtsreich gelten Rumänien, die Slowakei und Bulgarien, als noch evaluierungsbedürftig Mazedonien und Kroatien, als nicht salonfähig Albanien, Serbien und Bela
n und Belarus, als Protektorate ohnehin integriert sind Bosnien und Kosovo. Als Sonderfall firmiert die Ukraine, die noch warten muss, weil Russland ein Sonderfall ist. Wladimir Putin wird für den großen Wurf der NATO mit einem "Russland-Nordatlantik-Rat" entschädigt.Das Bündnis - es hat seit 1990 eine egomanisch dramatisierte Identitätskrise ausgekostet - wird sich in Prag also mit neuer Vitalität und Wangenröte ausstatten. Dieses Aufblühen wird als so alternativlos beschrieben wie das Eintrittsbegehren der Neuen. Wo sollten sie auch hin? Die Allianz hat als Vorleistung für diesen Nachschub ihre Gründungscharta von 1949 systematisch gesprengt. Sie war als Out-of-Area-NATO externer Ordnungsfaktor, um notfalls ost- und südosteuropäische Systemtransformationen militärisch abzusichern oder anzutreiben (siehe Jugoslawien). Mit Stufe zwei der Erweiterung wird dies nun gewissermaßen als Einbürgerung Osteuropas vollendet. Mitgliedschaft als Erklimmen der nächsten Sozialisationsstufe, allerdings unter anderen Umständen, als sich das noch 1994 mit Clintons Partnerschaft für den Frieden abzeichnete. Bei NATO-Neuzugängen sind heute keine erbosten Widerstände Moskaus mehr zu überwinden, wie das seinerzeit bei den Aspiranten Ungarn, Polen und Tschechien der Fall war. Wer derzeit um Aufnahme bittet, muss wissen: Für die USA können - vorübergehend - der Zugang zu Militärbasen in Usbekistan oder Tadschikistan und das Plazet Präsident Putins zu diesen rigiden Eingriffen in sein Nahes Ausland wichtiger sein als eine NATO-Anwartschaft Rumäniens. Das Bündnis hat einen Funktionswandel erfahren, dessen Triebkräfte endgültig in Nordamerika zu finden sind. Die "Europäisierung" durch Neumitglieder, ein quantitativer Wandel also, trifft auf eine "Amerikanisierung" oder qualitativen Wandel - durch Umwidmung.Erinnern wir uns, der nach dem 11. September 2001 reklamierte Bündnisfall ist von den Amerikanern als solcher nie abgerufen worden. Seine Verkündung schien eher politisch-symbolischer Natur. Die damit eingelöste Kontributionspflicht der europäischen Alliierten hatte die Revanche Amerikas soweit abzusegnen, wie das als Gebot transatlantischer Partnerschaft nötig und im Interesse eigener Souveränität möglich war. Eine Verabredung, die für eine nach den Anschlägen von New York verunsicherte Öffentlichkeit mit dem Label "Solidarität" auf Beschwichtigung zielte, für die entstehende, der westlichen Allianz übergeordnete Anti-Terror-Allianz auf Hierarchie und Arbeitsteilung. Als kollektiver Akteur war die NATO im entfachten Afghanistan-Krieg folgerichtig nicht gefragt, sie diente als strategisches Reservoir, aus dem sich die Amerikaner ad hoc versorgen konnten: von britischen Bodentruppen, über deutsche Spezialeinheiten (KSK) bis hin zum Flankenschutz durch Kontingente (vorrangig aus NATO-Staaten) am Horn von Afrika oder im Indischen Ozean. Bei einem Krieg gegen den Irak ist mit einer Neuauflage dieses Modells zu rechnen.Der 11. September 2001 hat insofern den Funktionswandel der NATO beschleunigt, denn als klassisches Militärbündnis ist sie für die Amerikaner danach mehr denn je zu einer "nachgeordneten Angelegenheit" (Egon Bahr) ihrer strategischen Autonomie geworden, als politischer Verbund des Westens sieht sie sich eher aufgewertet. Sie darf letzteres unter anderem mit der erneuten Erweiterung unter Beweis stellen. Sie darf im Kielwasser neuer US-Strategien aber noch Etliches mehr. Sie darf Teilhaber und logistischer Dienstleister der neuen US-Strategie sogenannter präventiver Schläge gegen potenzielle "Schurkenstaaten" sein. Eine Strategie, die den Einsatz von Kernwaffen ausdrücklich einschließt. Auf diese Re-Nuklearisierung von Kriegführung wird die NATO in Prag einschwenken und sich mit einer solchen Offensivdoktrin mehr verändern als durch die Ost-Ausdehnung. Und sie darf schließlich weiterhin mit ihrem europäischen Part als Militäragentur für regionale Kriseneinsätze zur Verfügung stehen. Lastenverteilung zur Entlastung der Amerikaner, wie sie am Hindukusch bereits praktiziert wird und im Nahen Osten (Palästina, Irak) vielleicht auch in der nichtrussischen GUS (Georgien) bevorsteht. Im Gegenzug werden es die Amerikaner ertragen, dass die Europäer die Allianz des öfteren als politisches Forum des Interessenabgleichs mit ihnen nutzen.Ein aufschlussreiches Defizit dieser "neuen" NATO besteht allerdings darin, dass eine schlüssige Definition ihrer Rolle im Zeitalter des "Anti-Terror-Kampfes", das richtigerweise Zeitalter der Präventivkriege genannt werden muss, bisher vermieden wurde. Die "Allianz im Wandel" ist strategische Eingreifreserve, Alliierter auf Abruf, Ersatzteillager, rückwärtiger Dienst der Amerikaner, westliche Wertegemeinschaft - die dienende Magd des "Guten". Aber was lässt sich im Schwebezustand zwischen Interventionskriegen, Terrorgefahr und fragilem Frieden eigentlich an Sicherheit gewinnen? Antworten, wie sie der 11. September 2001 gegeben hat, sind weniger denn je auszuschließen - das Fenster der Verwundbarkeit bleibt weit aufgestoßen. Mit der bisherigen Reaktion darauf mag sich das Bündnis einen kräftigen Überlebensschub verschafft haben - wofür, bleibt offen.