Magie der Turniere

Sportplatz Kolumne

Fast vergessen, diese Endlosgesänge. Seit der Fußball-Weltmeisterschaft ist ja schon über ein halbes Jahr ins Land gezogen. "Steht auf, wenn ihr Deutsche seid" oder schlichter und einfacher "Deutschland, Deutschland" hört man jetzt wieder, wenn die deutsche Handball-Nationalmannschaft spielt und gewinnt. Fast beängstigend ähnlich wie das Fußballevent klingt die Handball-Weltmeisterschaft. Nur - diesmal steigt die nationale Sportshow drinnen in großen, modernen Turnhallen statt draußen in den Arenen und auf den Fanmeilen. Ein Handball-Wintermärchen löste das Fußball-Sommermärchen ab. Auf den kalifornischen Gut-Drauf-Menschen Jürgen Klinsmann folgte der Gummersbacher Nationaltrainer Heiner Brand mit mächtigem Oberlippenbart. Beiden Trainern und ihren Teams wurde vor den Weltturnieren im eigenen Land nicht sonderlich viel zugetraut. Bei beiden kam es ganz anders. Fußball und Handball polierten mit den Weltmeisterschaften zur rechten Zeit ihr Image ganz kräftig auf.

Die meisten der insgesamt 92 Handball-Matches dieser WM waren ausverkauft, oft binnen einer halben Stunde. Knapp 300.000 Tickets gingen über den Tisch. Wer keine Karte ergattern konnte, setzte sich vor die Mattscheibe. So sahen sich das letzte deutsche Hauptrundenspiel bei dieser Handball-WM gegen Frankreich 6,47 Millionen Zuschauer an - das entspricht einem Marktanteil von 31,4 Prozent. Da hielt selbst die Sportschau nicht mehr mit - und die hatte immerhin den Rückrundenauftakt der Fußball-Bundesliga im Angebot. Diese Zahlen bestätigen einmal mehr den deutschen Zuschauertrend: Immer dann, wenn eine deutsche Mannschaft im eigenen Land bei einem großen Turnier erfolgreich aufspielt, bricht spätestens nach dem dritten Spiel helle Euphorie aus. Voraussetzung ist der Turniercharakter mit einer Vorrunde, einer Art Zwischenrunde und Ko-Matches bis zum Endspiel. Ein kraft- raubendes Duchhaltesystem, bei dem die deutschen Ballsportteams mit Kondition und Selbstdisziplin glänzen können. Der Mythos der "Turniermannschaft" hält sich in Deutschland wie bei seinen Gegnern deshalb schon über Jahrzehnte. Wichtig sind auch die so genannten Schlüsselspiele und Schlüsselspielorte der großen Turniere. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft wie auch bei der Handball-WM waren das die Ruhrpottstadt Dortmund und der sportliche Dauerrivale Polen. Als "Wohnzimmer" werden oft die "magischen Spielstätten" von deutschen Sportlern beschrieben. Dort fühlt man sich wohl und heimisch, die Stimmung ist atemberaubend, der Gegner bekommt es mit der Angst zu tun, und man gewinnt fast immer. Gegen Polen gewannen die Klinsmann-Kicker ihr drittes Vorrundenspiel im Dortmunder Westfalenstadion in allerletzter Minute, und dann ging die WM erst richtig los. In direkter Nachbarschaft, in der Dortmunder Westfalenhalle, verloren die Handballer keines ihrer Hauptrundenmatches. Der Reihe nach wurden Tunesien, Frankreich und Island besiegt. Zuvor gab es in Halle/Westfalen noch eine Niederlage gegen Polen, "die die Mannschaft zum richtigen Zeitpunkt aufgeweckt und in das Turnier gebracht hat", wie der Trainer Heiner Brand den nachhaltigen Sinn der Polen-Pleite analysierte. Es folgte bei den Handballern, wie bei der Fußball-WM auch, diese seltsam schöne Eigendynamik eines erfolgreichen Sportturniers. Ein deutscher "Hurra-Stil", der die in schwarz-rot-gold gewandeten Zuschauer und ihre Handballmannschaft gleichermaßen berauschte.

Am Ende eines solchen, neudeutsch "Projektes" soll dann der Gewinn des WM-Titels stehen. Die Fußballer warten seit 1990 darauf. Die Handballer bereits zwölf Jahre länger.


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