Gedenken Die neue Ausstellung am Mahnmal der Sinti:zze und Rom:nja in Berlin wird von einer eindrucksvollen Kurzfilmreihe begleitet. Gedacht wird auch der kürzlich verstorbenen Zilli Schmidt. Kritisiert werden die Baupläne der Bundesregierung
Es war eine merkliche Anspannung im prall gefüllten Kinosaal des Berliner Babylon-Kinos zu spüren. Denn an diesem Previewabend ging es nicht nur um künstlerisches Schaffen oder politische Inhalte. Sondern vor allem auch um die Lebensgeschichten von Verfolgten, deren Angehörige ebenso wie viele andere Betroffene mit im Saal saßen.
„Ake Dikhea?“ – Romanes für „Na, siehst du?“ – ist das Motto des internationalen Roma-Filmfestivals, das an diesem 24. Oktober zum sechsten Mal seinen Auftakt hatte. Sinti:zze und Rom:nja zeigen hier ihre Perspektiven – wie sie sich selbst sehen und gesehen werden wollen. Die Eröffnung fiel zusammen mit dem zehnten Jahrestag des Mahnmals der Sinti und Roma, der am Vormittag mit einem Festa
r Sinti und Roma, der am Vormittag mit einem Festakt am Tiergarten begangen wurde. Frank-Walter Steinmeier und der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, übergaben der Öffentlichkeit zu diesem Anlass eine neue Freiluftausstellung, kuratiert von der Stiftung Denkmal, mit neun Biografien europäischer Sinti und Roma, die während des Nationalsozialismus verfolgt oder ermordet wurden.Die Ausstellung hat Dani Karavan künstlerisch entworfen, der auch das Mahnmal geschaffen hat. Karavan starb vergangenes Jahr in Tel Aviv, seine Töchter Noa und Tamar waren an seiner statt aus Israel angereist. Bis zuletzt hatte Karavan gegen die Berliner Senatspläne protestiert, eine neue U-Bahn-Trasse zu bauen und damit das Mahnmal teilweise zu beschädigen. Sinti und Roma empfinden das als Angriff auf das Gedenken ihrer ermordeten Angehörigen. „Mein Vater war über diese Pläne sehr verärgert“, bekräftigt Noa Karavan. „Er sagte immer, unter keinen Umständen würde man es wagen, das jüdische Denkmal anzutasten, doch für die Sinti und Roma setze man sich nicht genauso ein.“ Der Amsterdamer Sinto Zoni Weisz hielt eine flammende Rede gegen die Baupläne und für ein demokratisches Miteinander. Auch ihm, dem Bürgerrechtler und ehemaligen Floristen der Königsfamilie, ist eine Erinnerungstafel gewidmet.Zilli Schmidt gewidmetBei der Premiere der neun animierten Kurzfilme, die die Freiluftausstellung ergänzen, betonte Weisz abends im prall gefüllten Babylon-Kino die in seinem Filmbeitrag dargestellte doppelte Identität. Er sei sowohl ein stolzer Sinto als auch ein engagierter Bürger seines Landes, Demokratie lebe vom gegenseitigen Respekt. Das war ein Aspekt, den auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth in ihrer Ansprache hervorhob. Die Filmbeiträge werden begleitet von Gesprächen mit Angehörigen der Dargestellten, Historikern oder europäischen Roma-Künstler:innen, die am Schaffensprozess beteiligt waren. Sie zeigen mit sehr unterschiedlichen Stilmitteln, wie Sinti und Roma ermordet wurden oder wie sie überlebten und sich nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben zurückkämpften.Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal, berichtete, dass er und Jana Mechelhoff-Herezi, die die Erinnerung an Sinti und Roma leitet, bei den historischen Recherchen auf ein weitaus größeres Ausmaß an Widerstand gegen die Nationalsozialisten gestoßen seien, als es bislang bekannt gewesen sei. Somit sind die Kurzfilme nicht nur bedrückende Dokumente von Verfolgung und Ermordung, sondern auch von Widerstand, Überlebenswillen und Hoffnung. Der polnischen Romni Alfreda „Noncia“ Markowska etwa gelang es, vor den Nazis zu fliehen und viele Kinder zu retten. Die Autorin ihres Filmbeitrags, die Dokumentarfilmerin Agnieszka Arnold, erzählte auf der Bühne, wie sehr diese starke Frau aufblühte, wenn sie Kinder um sich hatte.Der künstlerische Leiter der Kurzfilme, Hamze Bytyçi, Roma-Aktivist und Schauspieler am Maxim-Gorki-Theater, stellte die Veranstaltung unter das Gedenken an Zilli Schmidt. Die namhafte Sintezza, Überlebende von Auschwitz, wo ihre kleine Tochter und ihre Angehörigen ermordet wurden, hätte an diesem Tag anwesend sein sollen. Doch Schmidt, eine der letzten Zeitzeug:innen des Völkermords an den Sinti und Roma, war drei Tage zuvor mit 98 Jahren friedlich eingeschlafen, nach einem langen Leben des Engagements für das Gedenken an „ihre Menschen“. „Ake Dikhea, schaut her, sie wird nie vergessen werden!“, so Bytyçi unter tosendem Beifall.Das Drehbuch für den Film über Schmidt schrieb der Budapester Poetry Slammer Kristóf Horváth, Sprecherin ist sie selbst. Romeo Franz, EU-Abgeordneter der Grünen, war der Sprecher für den Kurzfilm über seinen Großonkel Vinko Paul Franz, der in Auschwitz ermordet wurde. Das Drehbuch schrieb der Autor von Desintegriert euch! und Gegenwartsbewältigung, Max Czollek. Vinko Paul Franz entstammte einer preußischen Musikerfamilie. Seine Nachkommen, Romeo Franz und dessen Sohn Romeo Manolito Franz, genannt Sunny, stehen in Vinkos musikalischer Tradition. Mit dem Geigenbogen seines ermordeten Angehörigen spielte Romeo Franz das akustische Klangbild für das Berliner Mahnmal der Sinti und Roma ein. Sichtlich bewegt hielt Franz ein Plädoyer gegen Antiziganismus und appellierte an die politisch Verantwortlichen, für die neue U-Bahn-Trasse eine andere Variante zu wählen, die das Mahnmal nicht berühre. Menschen könnten zweimal sterben – durch ihre Ermordung und das Vergessen –, aber auch ein drittes Mal, wenn die Erinnerung an sie beschädigt werde.
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