Proteste im Iran zeigen Wende der Gesellschaft

Meinung Nach dem Tod von Mahsa Amini im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei geht die Bevölkerung in Massen auf die Straße. Längst geht es nicht mehr allein um die Freiheit der Frauen. Die Protestierenden fordern ein Ende der islamischen Republik
Für die Freiheit der Frauen brennen bei den Protesten im Iran die abgenommenen Kopftücher
Für die Freiheit der Frauen brennen bei den Protesten im Iran die abgenommenen Kopftücher

Foto: Imago / ZUMA Wire

„Frauen, Leben, Freiheit“, ruft man seit etwa zwei Wochen auf den Straßen im Iran – auf Persisch und Kurdisch reimt sich die Parole und klingt viel schöner. Und sie überrascht. Denn bis vor Kurzem, bis vor Anfang des aktuellen Aufstands hätten auch die optimistischsten Beobachter:innen der iranischen Gesellschaft damit nicht gerechnet. Der Auslöser einer – könnte man behaupten – der größten Protestwellen in der Geschichte des Iran war die mutmaßliche Ermordung der 22-jährigen kurdischen Frau Jina (Mahsa) Amini, die laut Augenzeugen von der sogenannten Sittenpolizei, der zuständigen Behörde für Einhaltung der Hijab-Regeln in der Öffentlichkeit, misshandelt worden sein soll.

Die offizielle Todesursache ist laut der Polizei Herzinfarkt infolge einer Vorerkrankung, die die Familie stark bestreitet. Die Öffentlichkeit wartet die „gründlichen Untersuchungen“ nicht ab und glaubt der Familie. Nicht nur, weil sie in den letzten vier Jahrzehnten mehrmals erfahren durfte, dass solche Untersuchungen niemals zu dem Ergebnis kommen, eine staatliche Behörde, selbst eine staatliche Einzelperson trüge an irgendeinem Versagen eine Mitverantwortung. Die grundlegende Frage, die tausende Iraner:innen auf die Straße treibt, lautet: Warum eine Frau wegen ihrer Kleidung überhaupt festgenommen werden soll.

Im Laufe der Proteste änderten sich die Forderungen sehr schnell: Es geht mittlerweile nicht nur um die Abschaffung der Sittenpolizei oder Aufhebung des Hijab-Gesetzes, sondern um den Untergang des ganzen Systems. Aus „wir wollen keine Sittenpolizei“ ist „wir wollen keine Islamische Republik“ geworden. In der Radikalisierung der Proteste spielte auch die gewalttätige Reaktion des Staates eine Rolle – bisher der einzige nicht überraschende Aspekt dieser Bewegung. Bis zum 26. September hat die Menschenrechtsorganisation Menschrechte Iran IHRNGO 76 Todesfälle dokumentiert, darunter vier Minderjährige. Es ist von einer viel höheren Zahl auszugehen.

Die Proteste sind eine Wende im Iran

Laut offiziellen Angaben seien 1.200 Protestierende verhaftet worden. Doch die Menschenrechtsaktivist:innen sprechen von tausenden Inhaftierten. Es geht zwangsläufig auch um den Sturz der Islamischen Republik, wenn man die Abschaffung des Hijab-Zwangs fordert. Denn das gezwungene Kopftuch als Zeichen der Kontrolle über den weiblichen Körper ist ein zentrales Identitätssymbol dieses Systems. Das haben die Machthaber in Teheran mehrmals betont. Um dieses Symbol umzusetzen, hat die Islamische Republik alle Möglichkeiten ausgeschöpft: polizeiliche Kontrolle in verschiedenen Formen; Hijab-Pflicht bereits ab dem siebten Lebensjahr in Schulen, obwohl sie geschlechtergetrennt sind; massenhafte Produktion „kultureller“ Inhalte für Werbung für Hijab. Dass all diese Maßnahmen sich als nutzlos erweisen, ist ein Schlag ins Gesicht für die geistlichen Machthaber.

Die laufenden Proteste im Iran zeigen eine tiefgreifende Entwicklung in der Gesellschaft, eine Wende, nach der ein Großteil der Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung mindestens in Sachen Kleidung für Frauen nicht nur anerkennt, sondern dafür auf die Straße geht und sein Leben riskiert. Von 76 dokumentierten Toten sind 65 Männer. Natürlich geht es vielen von den mitprotestierenden Männern nicht unbedingt oder zumindest nicht nur um Freiheit der Frauen, sondern auch um die Wirtschaftsnot und Perspektivlosigkeit. Jedoch nehmen auch diese Männer auf sich, schlussendlich unter der Flagge einer Frauenbewegung auf die Straße zu gehen und „Frauen, Leben, Freiheit“ zu rufen. Darin unterscheidet sich dieser Aufstand von den bisherigen. Und darin sind die Proteste bereits ein Erfolg, auch wenn sie durch den brutalen Vorgang des Regimes vorläufig niedergeschlagen werden.

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