Mai oder Oktober

Kehrseite 2 Gestern Nachmittag war Maria hier. Wir saßen in der Küche. Es ging ihr wieder schlecht, und ich hörte mir, wie immer, das ganze Elend an. Draußen ...

Gestern Nachmittag war Maria hier. Wir saßen in der Küche. Es ging ihr wieder schlecht, und ich hörte mir, wie immer, das ganze Elend an. Draußen regnete es in Strömen, im Kinderzimmer war der Teufel los, und ich hatte eigentlich nur einen Kuchen backen wollen. Da klingelte es plötzlich mitten in Marias haltloses Schluchzen hinein, die Situation war mir peinlich, und am liebsten hätte ich gar nicht aufgemacht, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wie schnell meine Freundin sich fangen kann, und so hörte ich sie unvermittelt in ihrem rechthaberischen Ton zu mir sagen "Nun geh schon", und wie immer gehorchte ich ihr aufs Wort.

Vor der Tür stand ein Mann, den ich zuvor niemals gesehen hatte. Er sei neu im Haus, sagte er, und ob ich nicht zufällig den Schlüssel zum Dachboden hätte. Dabei sah er mich an, es verstrichen einige Sekunden, und dann hörte ich mich, als sei ich aus einem langen Schlaf erwacht, sagen "Wieviel Uhr ist es eigentlich?" Und er blickte auf seine Armbanduhr und antwortete ganz ruhig: "Viertel vor fünf."

"Wenigstens die Uhrzeit sollten wir uns doch merken, oder nicht?", sagte ich.

Aus der Küche hörte ich Maria neugierig, wie es ihre Art ist, rufen "Was ist denn los?", und hörte mich selber mit fester Stimme antworten: "Nichts Besonderes, ich bin gleich wieder da".

"Es ist kühl draußen", sagte er, "du solltest dir besser etwas überziehen." Also nahm ich meine graue Strickjacke von der Garderobe, warf noch rasch einen gleichgültigen Blick in den Spiegel und zog die Tür mit einem Ruck hinter mir zu.

"Derartige Dinge geschehen im Mai oder im Oktober", sagte er, als wir nun auf die Straße traten.

Wir gingen die Straße hinab bis zur nächsten Kreuzung, überquerten die Brücke über den Rhein, es regnete noch immer, doch keiner von uns hatte einen Schirm dabei.

"Eigentlich hatte ich einen Kuchen backen wollen, heute Nachmittag, dann stand Maria mit den Kindern vor der Tür, die Kinder sind wie die Wilden durch die Wohnung getobt, und mein Mann kommt normalerweise erst so gegen sieben nach Hause, im Übrigen mag ich dieses Regenwetter, eigentlich finde ich nie irgendetwas selbstverständlich. Ich bin oft ärgerlich, finde mich selbst zu dick, meine Kinder zu laut, meinen Mann zu gleichgültig. Am meisten aber ärgere ich mich über Maria, über ihre ewigen Geschichten, über diese verlorenen Nachmittage, Oktober, sagst du -"

"Ich habe es auch nur gelesen: dass die Wirklichkeit aufbrechen kann in jedem Augenblick oder so ähnlich. Ich weiß, es klingt höchst unwahrscheinlich. Vielleicht will man auch gar nicht darüber nachdenken, weil man es sonst sehr schnell mit der Angst zu tun bekommt."

Wenngleich wir sehr langsam gegangen waren, hatten wir inzwischen die Innenstadt erreicht, die Fußgängerzone war voller Menschen und bunter Regenschirme, Einkäufe wollten noch rasch erledigt werden, ein neues Kleid, die Zutaten für ein erlesenes Abendessen oder eins auf die Schnelle, man weiß, wie das ist.

"Es ist nicht Angst", sagte ich nun, "ich glaube nicht, dass es Angst ist, man denkt einfach nicht darüber nach. Einen Kuchen wollte ich heute Nachmittag backen, ein kleiner Traum wäre dabei vielleicht in die Schokoladenmasse gerieselt wie nebenbei. Man gibt sich rasch zufrieden, schau dich nur um."

"Ich schaue mich um, aber ich sehe nichts, das mich jetzt noch angeht. Ich meine, es interessiert mich, wie einen die Vergangenheit interessiert, weil man Bescheid wissen will, aber es hat nichts mehr mit mir selbst zu tun."

Am Bahnhof ging er die Fahrkarten kaufen, während ich am Zeitschriftenkiosk auf ihn wartete. "Der nächste Zug fährt nach Freiburg", sagte er, "ist das in Ordnung?"

Als wir unsere Plätze gefunden hatten und der Zug endlich anfuhr, kam plötzlich eine große Müdigkeit über mich. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich an zu Hause, an das Bild meines Mannes, der bald von der Arbeit kommen und eine aufgelöste Maria vorfinden würde, an eine Horde lärmender Kinder und kein Abendessen. Ich war müde, konnte nicht mehr nachdenken über diesen Nachmittag und darüber, wie alles gekommen war.

"Ich möchte nun schlafen", sagte ich zu ihm, und er sagte "schlaf." Dabei zog er ganz langsam meinen Kopf an seine Schulter. "Bis Freiburg sind es ungefähr vier Stunden", hörte ich ihn noch sagen. Dann schlief ich ein.

Stefanie Golisch, 1961 in Detmold geboren, lebt, liest und schreibt seit 1988 in Monza, Italien.


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