Mama, wie heißen die Stiefel auf Russisch?

Klima Ich habe schon Schnee gesehen, wo es keinen geben sollte. Dass mein Kind welchen sieht, wird seltener
Ausgabe 06/2020

In meinem Kofferraum fährt seit Weihnachten ein Schlitten mit. Der Schlitten sieht nicht aus wie ein klassischer Schlitten, kein schönes Holz, kein Seil zum Ziehen, das an Bullerbü denken lässt und „Kindheit“ als Begriff des Glücks. Der Schlitten ist blau-weiß-schwarz, er hat ein Lenkrad, Bremsen und glitzernde Aufkleber, die wie Leuchten aussehen sollen, eine Art Schneemobil, mein Sohn sagt, das könnte ein „Weltraumfahrzeug“ sein.

Als Weltraumfahrzeug stand das Ding in meinem Wohnzimmer, es wurde viel bestiegen und bespielt, jetzt sind da Kratzer auf dem Parkett, im Kofferraum kein Platz mehr für andere Dinge und auf der Erde kein Schnee. Also fahren der Schlitten und ich zusammen durch den frühlingshaften Winter.

Eine der schönsten Sagen über fremde Sprachen, die sich leider als unwahr erweist, erzählt, dass die Inuit, also die Bewohner der äußersten Nordhalbkugel, 500 verschiedene Worte für Schnee kennen. Stellt sich raus: Die sagen auch nur „Schnee“, bloß in Inuitsprache. Die deutsche Sprache kennt Schneeworte, die aus dem Skiurlaub-Umfeld stammen, aber nicht alltagstauglich sind, Pulverschnee zum Beispiel. Meine Muttersprache, das Russische, weiß die Hindernisse im schneegetriebenen Winter viel besser zu beschreiben. Ein Wort für die Schneehügel/-wehen, die sich kniehoch am Straßenrand sammeln und durch die wir als Kinder auf dem Weg zur Schule auf keinen Fall stampfen sollten (nichts da mit „einen schönen Tag, mein Schatz!“, stattdessen: „und stampf nicht durch die сугробы, hörst du!“). Ein Wort für die Filzstiefel mit übergestülptem Gummischutz am Fuß, weil die Mütter wussten, dass wir nicht auf die Ermahnung hören würden. Ein Wort für den grau-braunen Matsch, den die Trolleybusse ab März bis ins Gesicht spritzen. Die Sehnsucht nach Russland, das ich mit elf verließ, kommt selten, aber flüstert gerne im Winter, flüstert Schneeworte, bis ich das Knirschen hören möchte, wenn Schnee, Filz und Gummi aufeinandertreffen, bis ich versinken möchte im oben großstadtgrau betäubten Schnee.

Eine Zeit lang lebte ich in Israel, ich war nicht wegen des Wetters dahin gegangen, aber freute mich unglaublich darauf, mich im Winter am Strand zu sonnen. In dem Winter, in dem ich mich am Strand sonnen wollte, fiel Schnee, das erste Mal seit zwanzig Jahren oder so ähnlich. In Jerusalem, wo ich lebte, saß ich in einer Univorlesung, als eine Durchsage kam. Ich dachte sofort an einen Terroranschlag, an Krieg, verstand das Wort nicht, das der Grund dafür war, dass alle Vorlesungen sofort abgebrochen werden mussten: Schnee ist kein gebräuchliches Wort der hebräischen Sprache. Die Student*innen stürmten hinaus, aufgeregt wie kleine Kinder, schnappten mit den Zungen nach Schnee und versuchten, aus den wenigen Flocken Schneebälle zu formen. Ich sah kleine Kinder, die weinten.

Der Schlitten, der seit Weihnachten in meinem Kofferraum mitfährt, weiß noch nicht, welche Farben Schnee hat. „Kann ich mal die Wetter-App sehen“, fragt das Kind und nimmt die Enttäuschung vorweg: „ist an diesem Wochenende wieder kein Schnee?“ Das Kind wächst in einem anderen Land, in einer anderen Zeit als seine Mutter auf, es denkt in Apps und kann zwar Russisch, aber nicht das Wort für die obligatorischen Winter-Filzstiefel. Es hat sie vielleicht mal in einem Bilderbuch gesehen.

Das Kind weiß, dass es mit dem Klimawandel zu tun hat, dass es das Weltraumfahrzeug nicht ausprobieren kann. Immerhin kennt es Schnee.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin über interkulturelle Begebenheiten für den Freitag

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