Armutsfest Der Generalsekretär des Deutschen Caritas-Verbandes, Professor Georg Cremer, über Gesundheitskosten, Kopfpauschalen und die Zukunft des Sozialstaates
FREITAG: Die Mitarbeiter Ihres Verbandes kommen viel herum und sprechen mit den von ihnen betreuten Menschen. Wie reagieren die auf die Reformdebatte, können Sie so etwas wie ein Stimmungsbild wiedergeben? GEORG CREMER: In den Diensten und Einrichtungen der Caritas haben wir es mit Menschen in sehr unterschiedlicher Einkommenssituation zu tun. Als besonders bedrohlich wird die Lage derzeit vor allem von Sozialhilfeempfängern und Familien in prekären Einkommenssituationen erlebt.
Der Caritas-Verband hat mehrere Stellungnahmen zur Reform der Sozialsysteme abgegeben. Dort heißt es unter anderem, dass die Reform des Gesundheitssystems, wie sie im Bundestag verabschiedet wurde, sozial nicht abgefedert sei. Halten Sie die Vorschläge der Herzog-Kommission, die den Ausstie
mmission, die den Ausstieg aus der paritätischen und solidarischen Gesundheitsfinanzierung vorschlägt, für gerechter? Die Vorschläge der Herzog-Kommission sind im Detail noch wenig spezifiziert. Es handelt sich weniger um einen detaillierten Reformplan als um eine politische Programmschrift. Die Rürup-Kommission äußert sich, obwohl sie inhaltlich gar nicht so weit von Herzog entfernt ist, viel konkreter. Andererseits formuliert die Herzog-Kommission hochrangige Ziele, zum Beispiel sollen alle am medizinischen Fortschritt teilhaben, es soll einen sozialen Ausgleich im System der Krankenversorgung geben und die freie Arztwahl erhalten bleiben.Nun hat sich der Caritas-Verband bekanntlich für die Einrichtung einer Bürgerversicherung ausgesprochen. Die Herzog-Kommission dagegen will den Kreis der Beitragszahler nicht erweitern und eine Kopfpauschale in Verbindung mit einem steuerfinanzierten sozialen Ausgleich einführen. Sie quantifiziert diesen Sozialausgleich auf 27 Milliarden Euro. Für uns als Verband ist entscheidend, ob das neue System für Sozialhilfeempfänger, Arme und Familien mit mehreren Kindern einen guten Gesundheitsschutz gewährleistet. Wenn wir eine Kopfpauschale hätten, müsste diese für die genannten Gruppen durch staatliche Transfers finanziert beziehungsweise ergänzt werden. Wenn das gewährleistet ist, kann auch ein solches System sozial sein. Wir sehen allerdings nicht, wie ein Betrag von 27 Milliarden Euro im Steuersystem aufgebracht werden soll, da macht auch der Bericht keine Vorschläge. Sehr ernsthaft muss man auch darüber diskutieren, ob ein solches Transfersystem nicht anfällig ist gegen spätere Kürzungen und damit je nach Kassenlage manipuliert werden könnte.Das ist das eine, das andere ist die Frage, ob es gerecht ist, dass, sagen wir, ein Regierungsdirektor die gleiche Pauschale bezahlt wie jemand, der für ihn putzt und der Transfer dann wieder von der Allgemeinheit aufgebracht werden muss. Man muss sehen, dass auch das derzeitige System nicht besonders gerecht ist. Besser Verdienende jenseits der Pflichtgrenze können sich aus dem System verabschieden. Wer einen Halbtagsjob hat und sonst von Vermögenseinkommen lebt, kommt relativ billig zu einer Krankenversicherung. Der Regierungsdirektor in Ihrem Beispiel müsste beim Kopfpauschalensystem über seine Steuerbelastung, in die alle Einkünfte einbezogen werden, den Sozialausgleich mitfinanzieren. Die Vorstellungen der Herzog-Kommission sind momentan noch zu unkonkret, um sie auf Herz und Nieren prüfen zu können. Unsere Zweifel beziehen sich darauf, ob es der Politik gelingt, diesen Sozialausgleich im Steuersystem in diesem Umfang zu gestalten.Ihr Verband hat sich sehr gegen Zuzahlungen für Sozialhilfeempfänger und Geringverdienende ausgesprochen und gefordert, das Krankengeld "armutsfest" zu machen. Wir sind nicht grundsätzlich gegen Zuzahlungen für Personen, die sich das leisten können. Wir halten es aber für nicht akzeptabel, von Sozialhilfeempfängern, wie es die Gesundheitsreform 2003 vorsieht, Zuzahlungen zu fordern. Faktisch läuft das auf eine Absenkung des Existenzminimums hinaus, denn der Regelsatz der Sozialhilfe schließt Krankenkosten nicht ein. Wir sehen mit Sorge, dass bei den weiteren Sozialreformen Leistungen in die private Vorsorge überführt werden. Das ist nicht illegitim, aber es muss geregelt sein, dass ärmere Menschen ebenfalls diese Leistungen erhalten, entweder durch Erhöhung der Regelsätze der Sozialhilfe oder indem ihnen diese besonderen Aufwendungen erstattet werden.Was halten Sie vom Vorschlag, die von Norbert Blüm eingeführte Pflegeversicherung in der alten Form abzuschaffen? Wir benötigen auf jeden Fall ein System, das das Pflegerisiko absichert. Begrüßenswert ist, dass die Herzog-Kommission den Bedarf sieht, die Pflegeversicherungsleistungen zu dynamisieren, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Sicherung der Pflege nach und nach ausgezehrt wird. Bisher hatten wir ein umlagefinanziertes System, man könnte sich auch vorstellen, dass ein kapitalgedecktes System eingeführt wird. Entscheidend ist jedoch, dass auch ärmere Schichten Zugang zu diesen Leistungen haben.Wir haben einmal zusammengerechnet, was, wenn das Herzog-Modell von der CDU politisch umgesetzt würde, auf die Bürger zukommt: Eine Krankenversicherung von Euro 260 pro Nase, die Kosten für Zahnersatz und Zahnbehandlung beziehungsweise eine entsprechende Versicherung, verschiedene Zuzahlungen für Gesundheitskosten, die von den Versicherten allein zu erbringende Pflegeversicherung von bis zu 66 Euro, außerdem noch Mehrkosten für die private Altersvorsorge: Das heißt doch, dass über die Sozialhilfeempfänger hinaus Schichten mit niedrigeren und mittleren Einkommen in erhebliche Bedrängnis bei der Finanzierung kommen und sie werden nach Wegen suchen, dies zu umgehen? Für uns ist nur denkbar, dass die Risiken Krankheit, Alter und Pflege in einem System abgesichert wird, das eine Versicherungspflicht beinhaltet. Die zusätzlichen Lasten müssten auf der anderen Seite mit Entlastungen für Einkommensschwache einher gehen. Ohne Kompensation würden sich tatsächlich - über den Kreis der Sozialhilfeempfänger hinaus - viele Menschen diesen Versicherungsschutz nicht mehr leisten können.Unabhängig ob sich Rürup oder Herzog oder eine Mischung davon durchsetzen wird, erwarten Sie Veränderungen für die Arbeit Ihres Verbandes? Ausschlaggebend für uns ist die Verlässlichkeit des Systems. Wir müssen feststellen, dass an die Menschen, die keine politische Lobby haben - Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, verschuldete oder psychisch kranke Personen - zuletzt gedacht wird. Viele Leistungen für diesen Personenkreis sind zudem gesetzlich gar nicht garantiert, sondern freiwillige Leistungen der Kommunen, und die staatliche Kofinanzierung bricht an vielen Orten zusammen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, auf diese politisch nicht vertretenen Gruppen hinzuweisen.Ihr Verband ist der Menschenwürde und Solidarität verpflichtet. Wo liegt die Schmerzgrenze Ihres Verbandes, soweit es die Pläne zur Reform des Sozialstaats betrifft? Das ist eine schwierige Frage. Die Schmerzgrenze liegt dort, wo wir der Meinung sind, wir können keine menschenwürdige Pflege in unseren Einrichtungen mehr bewerkstelligen. Das heißt aber nicht, dass wir nur unter den jetzigen Bedingungen arbeiten werden.Die Caritas hat kürzlich zusammen mit anderen Wohlfahrtsverbänden einen nachdrücklichen Aufruf verfasst mit dem Tenor "Hessen muss sozial bleiben", in dem der Sparkurs der Koch-Regierung massiv kritisiert wird. Fürchten Sie nicht, dass das bald auch die Realität auf Bundesebene sein wird? In Hessen stellt sich die Frage anders als in der bundesdeutschen Reformdebatte. In Hessen wird der öffentliche Haushalt zu Lasten der Angebote der Wohlfahrtsverbände saniert. Man erwartet von uns, dass wir beispielsweise Schuldnerberatungsstellen unterhalten, sieht aber kein Problem darin, die öffentlichen Zuwendungen innerhalb weniger Monate zu kürzen oder ganz zu streichen. Von uns wird ein dauerhaftes, verlässliches Angebot gemacht, aber der Staat ist hier kein verlässlicher Partner, das kann nicht funktionieren. Besondere Sorge machen uns die Kommunen: Wenn diese finanziell nicht besser gestellt werden, werden viele soziale Dienste wegbrechen.Das Gespräch führte Ulrike Baureithel
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