Männer infizieren Frauen

AIDS Sechs Thesen

Während allgemein die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland stagniert, steigt sie bei Frauen. Lag ihr Anteil 1989 noch bei 14 Prozent, waren es 1998 bereits knapp 23 Prozent.

Männer infizieren Frauen. Das mag provokant klingen, entspricht aber der Realität. Frauen infizieren sich entweder beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr oder beim gemeinsamen Gebrauch von Spritzen. Frauen stehen in der Hierarchie beim Drogenkonsum am Ende, sie sind daher die letzten, die "etwas von dem Schuss abbekommen".

Frauen können keine Kondome benutzen. Sie können nur Männer überzeugen, sie überreden oder regelrecht aushandeln, dass diese Kondome benutzen. Frauen haben nicht die Möglichkeit, Männer vor vollendete Tatsachen zu stellen, das Femidom ist keine sichere Alternative. Deshalb sind Frauen in der Rolle der Fordernden auf die Kooperation der Männer angewiesen. Entscheidend bleibt letztlich immer das Macht- und Freiheitsverhältnis zwischen den beiden.

Das Infektionsrisiko für Frauen ist im weiblichen Geschlecht begründet. Soziale Anpassungsfähigkeit, Unterordnungsbereitschaft und die Zurückstellung eigener Interessen hinter die der Allgemeinheit sind Ergebnis der Erziehung von Mädchen sowie gesellschaftlich wirkender Einflüsse. Sich vor einer HIV-Infektion zu schützen, ist damit wesentlich von der Fähigkeit der Frauen abhängig, das Konstrukt geschlechtsspezifischer Sozialisation zu durchbrechen, sich zu behaupten.

Eine HIV-Infektion bedeutet für eine Frau die Zuspitzung der Lebensbedingungen von Frauen in Deutschland. Die AIDS-Armut ist weiblich. Obwohl nur jede fünfte HIV-Infektion und nur jede zehnte AIDS-Erkrankung eine Frau trifft, wird jeder vierte Antrag auf Unterstützung, der bei der Deutschen AIDS-Stiftung eingeht, von oder für eine Frau gestellt. Der Grund: Statistisch gesehen sind Frauen zum Zeitpunkt der Infektion circa zehn Jahre jünger als Männer. Sie haben deshalb weniger oder gar keine Ansprüche an Versicherungen. Da Frauen außerdem im Durchschnitt weniger verdienen als Männer, erhalten sie bei Erwerbsunfähigkeit auch weniger Rente.

Frauen empfinden die HIV-Infektion als Makel, schrauben in der Konsequenz ihre Ansprüche, auch innerhalb der Beziehung, herunter. Sie entscheiden sich aufgrund ihres vermeintlich "geminderten Werts" sogar für Partner, die vorher nicht ihren Vorstellungen entsprochen hätten.

Im Namen der Aufklärung werden die Persönlichkeitsrechte der Frauen verletzt. Der HIV-Antikörper-Test wird inzwischen bei fast allen Schwangeren gemacht - aber ohne umfassende Beratung. Bei positivem Testergebnis stehen Frau und Arzt hilflos da. Um diesen Mangel zu überwinden, um Bereitschaft zur Beratung zu verstärken, wird diskutiert, künftig im Mutterpass einen Eintrag über das Testergebnis zu machen. Würde der Vermerk eingeführt, hätten Frauen, überall, wo sie den Mutterpass vorlegen müssen, mit (gewollt oder ungewollt) verletzenden Reaktionen zu rechnen. Denkbar wäre, dass Frauen sich dann entschieden, auf jegliche, die Schwangerschaft betreffende Gesundheitsvorsorge lieber ganz zu verzichten.

Die Menschenrechte der infizierten Frauen werden angetastet. Der Kinderwunsch von Frauen mit HIV/AIDS wird mit Egoismus und Verantwortungslosigkeit gleichgesetzt. Sie müssen sich rechtfertigen, wenn sie nicht abtreiben wollen. Die Leistungsgesellschaft konfrontiert sie mit Zumutungen, wie sie sich in solchen Fragen finden: Wie "gesund" muss ein Leben sein, damit es "wert" ist, geboren zu werden? Darf man ein Kind in die Welt setzen, wenn die eigene Lebenserwartung reduziert ist? Die HIV-Infektion einer Frau ist auch Ausschlusskriterium für eine assis tierte Insemination. In Deutschland läge bei optimaler therapeutischer Betreuung das Restrisiko für eine Infektion des Kindes bei zwei Prozent.

Mara Seibert ist Frauenreferentin bei der Deutschen AIDS Hilfe

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