Am 15. August 1951 setzt sich der Funker der S/S Cyrenia in Melbourne an den Schreibtisch in seiner Kajüte und beginnt einen Roman. Zwei Gedichtbände hat Nikos Kavvadias - so der Name des schreibenden Seemannns - schon veröffentlicht, der erste, 1933 erschienen, machte ihn auf Anhieb zu einer beachteten Figur der griechischen Literaturszene. Und nun also, 18 Jahre nach dem glänzenden Debüt, vier Jahre nach dem zweiten Lyrikband, ein Roman. Wie sich zeigen sollte, würde Die Wache nicht nur Kavvadias´ einziger langer Prosatext bleiben - er veröffentlichte bis zu seinem Tod 1975 überhaupt nichts mehr und fuhr weiter zur See. Im Nachlass fanden sich Gedichte, sie wurden in seinem Todesjahr postum publiziert, sowie drei Erzählungen, die erst in
e erst in den achtziger Jahren erschienen. Da war der 65-jährig nach einem Schlaganfall in einem Athener Krankenhaus Gestorbene zwar schon etliche Zeit tot, jedoch keineswegs vergessen. "Viele lernten seine Gedichte auswendig", schreibt Maria Petersen, die Übersetzerin der Wache, in ihrem Nachwort, "noch heute trifft man in Griechenland Leser, die aus dem Stegreif lange Passagen aufsagen können." Im deutschsprachigen Raum aber ist Nikos Kavvadias bis heute ein Unbekannter. Das könnte sich jetzt ändern.Obwohl, andererseits - was geht die Aktivisten der sogenannten Spaßgesellschaft das Seemannsgarn eines griechischen Funkers aus den fünfziger Jahren an? Eines noch nicht mal besonders attraktiven dazu: "Klein von Gestalt, mit spärlichem Haar. Er trug khakifarbene Shorts, in der Taille nur vom obersten Knopf zusammengehalten. Die übrigen fehlten. Ein Ohr war nach vorne geklappt und größer als das andere" - Nikolas, den Funker des griechischen Seelenverkäufers S/S Pytheas, der gerade das Chinesische Meer befährt, müssen wir uns als einen unheldischen, durchaus nicht smarten Helden vorstellen (der übrigens, wie die Übersetzerin versichert, bis in seine Tätowierungen hinein der Erscheinung des Autors entsprach). Kein "Seewolf" also, keiner, der fabelhafte Taten mit tragischem Ausgang vollbringt. Eher ein Durchschnitts-Mann auf See: verschwitzt in einer verkommenen Kajüte hausend, Kettenraucher und kompetenter Fachmann, einer, der das Trinken aufgegeben hat und bei einer besonders schmerzlichen Erinnerung im Verlauf des Romans wieder damit anfangen wird. Ein Einzelgänger, der aus keinem anderen Grund zur See fährt, als um zur See zu fahren: weil er sich ein anderes Leben für sich nicht denken kann. Das aber hat mit Angst zu tun, mit der Angst vor der alltäglichen Wirklichkeit. Und da könnte heutiges Interesse dann doch unvermutet schnell einen Ansatzpunkt finden.Dies umso mehr, als Kavvadias im Wechsel zwischen äußerst knappen Beschreibungen, schnellen Dialogen und davon ausgehenden Erinnerungs-Passagen ein emotional fein differenziertes Bild dieser Seemanns-Welt zeichnet - in diesem Sinne ist er sozusagen ein Hemingway zur See und der Roman ein modern montiertes Sehnsuchts- und Erinnerungsbuch. Denn über weite Strecken erzählen Nikos und der Steuermann Jerasimos einander auf ihren Wachen in allerlei wahr erfundenen Episoden ihr Leben: Es beginnt immer dann, wenn sie das Schiff verlassen und in fremden Häfen an Land gehen. Zu den Frauen natürlich, und das heißt: zu den Nutten. Momente von Liebe und Edelmut, von Schmerz und Furcht, von kurzem Glück und schuldhaftem Versagen prägen diese Erzählungen, die nach und nach das so dürftige wie bedürftige Seefahrerleben konturieren. Und so wachsen aus den unglücklichen Frauen-Land-Geschichten allmählich auch die Gründe hervor, die diese Männer an die Seefahrerei gebunden bleiben lassen, und ihre größte Angst bekommt einen Namen: Liebe.Das alles ist, um es klar zu sagen, nichts für zarte Seelen, und wer die verzweifelt überagierende Gestik des Machismo nicht noch einmal ohne allen Softy-Firnis in Aktion sehen mag, der ist bei der Wache leider falsch. Denn natürlich sind Kavvadias´ Mütter (wäschewaschende, um die an die See verlorenen Söhne weinende) Heilige, alle anderen Frauen aber potenzielle oder tatsächliche Huren, die ihre Männer betrügen, kaum dass die mit ihrem Seesack um die Ecke gebogen sind. Und doch: Gerade die Ungeschminktheit des hier geltenden obersten Lehr- und Glaubenssatzes "Frauen sind Löcher, sonst nichts" lässt spiegelbildlich die Schwäche und Lebensunfähigkeit dieser wortstarken Männer nur umso deutlicher hervortreten. "Du liebst nicht mal deinen eigenen Körper", sagt einmal eine innere Stimme zum delirierenden Funker. "Du sagst ich, und das Wort füllt deinen Mund. Du fährst auf dem Meer, weil du dich vor dem Festland fürchtest. Du schläfst mit Prostituierten, weil du feige bist." Da versteht man auch, weshalb der zweite Lehrsatz lautet, Wahrheit bedeute Gefahr.So ist Die Wache in dieser Hinsicht also ein altmodisch-unverstelltes Buch vom Unglücklichsein, und es besitzt darin erstaunlicherweise ebensoviel Kraft wie Zartheit. Die Geschichten selbst aber, die die Männer da einander auftischen, während der junge, gerade mit der Syphilis infizierte Assistent Diamandis um sein Leben fiebert - diese Geschichten sind, auch für sich genommen, zumeist einfach großartig erzählt. Der Reiz, der vom Abenteuerroman einmal ausging, ist in ihnen noch lebendig: das Exotische, das Skurrile, die Faszination einer in allem fremden Welt, und dass das selbst heute noch so sein kann, ist einzig Kavvadias nicht selten ironischer, dann wieder einfühlsamer Lakonie zu danken. Nur ist ihm beim langwierigen Schreiben auf hoher See zwischendurch offenbar der Erzähl-Atem ausgegangen. Während nämlich der erste Teil des Romans in seinen souveränen Wechseln von der Schiffs-Gegenwart zur Land-Erinnerung die Kopf- und Lebenswelt der Seefahrer kompakt und sinnlich herstellt, bereiten die Delirien des zweiten Abschnitts beim Lesen eher Kummer. Und der dritte schließlich, der den Erzählfaden wieder aufnimmt, erscheint mit seinen Widmungen an Persönlichkeiten des zeitgenössischen griechischen Kulturlebens und den Motti über jedem einzelnen Kapitel eher als eine strukturell noch gerade eben so zusammengehaltene Geschichtensammlung.Wenn am Ende allerdings der junge Diamandis nach eigentümlicher Behandlung und nächtlicher Rikschafahrt durchs chinesische Kriegsgebiet von der Syphilis geheilt scheint, der alte Käpt´n Panajis wiederum mit den Füßen voran aus dem Hurenhaus getragen und sein Leichnam in letzter Sekunde an Bord der Pytheas gehievt wird, während zwei Frauen in Abendrobe am Kai deren Leinen von den Pollern lösen - dann, ja dann sieht man dem Schiffsfunker Nikos Kavvadias doch wieder glücklich bei der Arbeit zu. Und begreift die plötzlich als ein literarisches Gegenstück zur Brotarbeit auf See: als eine andere Art, Positionsbestimmungen und Lebenszeichen in die Welt zu funken. Die, wie man sieht, auch fünfzig Jahre Übertragungsverzug gut überdauert haben - nicht zuletzt wegen der sensiblen Dechiffrierkünste der Übersetzerin Maria Petersen.Nikos Kavvadias: Die Wache. Roman. Aus dem Neugriechischen von Maria Petersen. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001, 336 S., 38,92 DM
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.