Märchen

Im Kino Oscarpreisträger "Tsotsi" aus Südafrika ist Weltkino für die breite Masse

Gavin Hoods erster internationaler Produktion Tsotsi eilt der Ruf voraus, die südafrikanische Antwort auf City of God zu sein. Ein Vergleich, der in vielerlei Hinsicht standhält. Schon ihre Erfolgsgeschichten ähneln sich frappierend. Über Publikumspreise auf zahlreichen internationalen Filmfestivals führte der Weg geradewegs zu den Oscars, wo Tsotsi im Frühjahr - wie einige Jahre zuvor Fernando Meirelles Favela-Drama - den Preis für die beste ausländische Produktion gewann. Die Präferenz der Academy für eine bestimmte Sorte von "World Cinema" war in den vergangenen Jahren kaum zu übersehen: epische Stoffe, die sich gut in die dominierende Filmsprache übersetzen lassen und dementsprechend den Geschmack eines breiten Publikums bedienen. "Crowdpleaser" nennt der amerikanische Kritiker das. Caroline Links Nirgendwo in Afrika, Niki Caros Whale Rider oder City of God sind die bekannten Beispiele dafür. Für Caro und Meirelles kam mit diesen Filmen der internationale Durchbruch - und ein Ticket nach Hollywood. Gavin Hood wird ihnen vermutlich bald folgen.

Tsotsi, weit weniger komplex angelegt als City of God, erzählt aus dem Leben eines jungen Gangsters (Presley Chweneyagae) in den Townships von Johannesburg. Tsotsi, ein Slangbegriff für Gangster, ist sein Pseudonym; seinen richtigen Namen kennt niemand, nicht einmal die Mitglieder seiner eigenen Gang. Dazu gehören Boston, ein Straßen-Philosoph und Alkoholiker; der Heißsporn Butcher, der einer tickenden Zeitbombe ähnelt und gleich zu Beginn des Films in der überfüllten U-Bahn einen reichen Geschäftsmann kaltblütig absticht; der Dritte im Bunde ist Aap, ein tumber Riese, der in Tsotsi eine Art Mentor sieht. Jeder der Drei bringt seine sozialen Defekte ins Bandengefüge, die über die seltsame Gruppendynamik wieder aufgefangen werden. Im Grunde erinnert Tsotsis Bande eher an eine Ersatzfamilie als an eine brutale Straßengang.

Vatergefühle aber weckt bei Tsotsi erst das Baby, das er auf dem Rücksitz eines geklauten Wagens findet. Die zur Hilfe eilende Mutter schießt er kurzerhand nieder. Doch Tsotsi bringt es nicht übers Herz, das Kind zurückzulassen und nimmt es mit in seine düstere Bretterbude. Der Anblick des hilflosen Babys bringt Verdrängtes zurück: Erinnerungen an seine verstorbene Mutter und an seinen Vater, vor dem er floh, nachdem der seinem Hund das Genick gebrochen hat.

Zwei exemplarische Bilder bilden die Klammer der Geschichte: Tsotsi, wie er einem verkrüppelten Bettler mit vorgehaltener Waffe droht, und Tsotsi als fürsorgender Ziehvater, der "sein" Baby mit alten Zeitungen wickelt. Motive, die der Film jedoch nicht in Einklang bringen kann. Aus elliptisch angelegten Episoden soll sich der Entwicklungsroman eines jungen Gangsters ergeben. Aber sie bleiben bloße Momentaufnahmen. Und die skizzenartige, rund fünfzehnminütige Exposition ist nicht genug, um Tsotsis spätere Wandlung plausibel zu machen.

Es sind die Augen Presley Chweneyagaes, die zwischen den Widersprüchen und psychologischen Leerstellen vermitteln müssen. Chweneyagae erweist sich als faszinierende Neuentdeckung; sein stechender, ins Leere gehender Blick strahlt eine beunruhigende Intensität aus. Man ahnt, dass hinter der ausdruckslosen Miene etwas arbeitet; so abgestumpft und verroht kann ein Mensch unmöglich sein. Aber Hood bemüht sich nicht zu zeigen, was den Jungen bewegt. Stattdessen führt er bloß vor.

Irgendwann erstarrt die Geschichte zu reiner Allegorie: versöhnlicher Dritte-Welt-Kitsch um Schuld und Erlösung. Miriam (Terry Pheto), eine madonnenähnlichen Mutterfigur, die ihr bescheidenes Domizil mit Mobiles aus Glasscherben behängt, damit wenigstens etwas Licht und Farbe ihr geschundenes Dasein erfüllt, weist ihm den richtigen Weg. Als Tsotsi das erste Mal zu ihr kommt, zwingt er sie mit Waffengewalt, das Baby zu stillen. Später wird sie ihn annehmen. Es ist zu schön, um wahr zu sein.

Hoods Rückfall ins Märchenhafte ist umso ärgerlicher, weil es ihm gelungen ist, das vibrierende Leben in Soweto ohne ästhetische Verklärung einzufangen. Hood hat Tsotsi auf hochauflösendem Film gedreht, "um den Schmutz, die Farben und die Struktur der echten Umgebung im Detail einfangen zu können." So entgeht der Film mühelos den Fallen eines exotisierenden Elendstourismus. In den Morgenstunden, wenn sich die Pendler in die Stadt aufmachen, glüht der Himmel orangerot. Nie wirkten Slums bedrohlicher, düsterer. Doch das Allegorische steht dem Realismus der Milieustudie immer im Weg.


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